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Séverine Marguin: Work in project

Séverine Marguin: Work in project
Foto: © Günter Havlena / pixelio.de

In Berlin gibt es 150 Projekträume. Ihre Existenz ist prekär. Ein Großteil muss mit weniger als 5.000 Euro jährlich auskommen, das stellt die französische Soziologin Séverine Marguin in ihrer Studie „Projekträume: Vitales, aber fragiles Herz der Kunstszene“ fest. Für den Kunststandort Berlin sind Projekträume aber überaus wichtig.

 

Interview Jens Thomas

 

CCB Magazin: Frau Marguin, Sie untersuchen in ihrer Studie Berliner Projekträume. Worin begründet sich Berlins Anziehungskraft für die Kunst- und Kulturszene?

Séverine Marguin: Berlin wird vor allem aufgrund seiner freien Räume geschätzt. Die sogenannte Freie Szene hat derzeit weltweit eine besondere Anziehungskraft. Immer wenn ich in Paris oder anderswo bin, schwärmt man von der Berliner Kunstszene.

CCB Magazin:Der Berliner Kunst- und Kulturstandort rangiert dem „Global Arts Centers Index“ zufolge auf einer Skala der weltweiten Kunstmetropolen mittlerweile an zweiter Stelle hinter New York. Sie vergleichen in ihrer Studie den Standort Berlin mit Paris. Welche Unterschiede machen Sie fest?

Séverine Marguin:Zuerst können beide Kunstmetropolen auf international anerkannte Institutionen verweisen, Paris etwa auf das Centre George Pompidou oder das Palais de Tokyo, Berlin auf den Hamburger Bahnhof oder die Kunst-Werke. Paris und Berlin unterscheiden sich aber im Hinblick auf den Kunstmarkt und die freie Szene: Paris hat einen großen und lukrativen Kunstmarkt, der auf traditionelle und moderne Kunstwerken spezialisiert ist, während Berlin den Fokus auf den jüngeren Kunstmarkt für zeitgenössische Kunst setzt. Was die freie Szene angeht, sind die Unterschiede noch prägnanter: In Paris gibt es im Gegensatz zu Berlin nur wenige Projekträume, höchstens zehn. In Berlin sind es 150. Paris ist viel teurer, es gibt dort wenige freie Räume. Insgesamt lässt sich sagen: Paris ist eine Verkaufsstadt, Berlin eine Produktionsstadt. 

Die Goldene Zeit der Projekträume in Berlin war zwischen 2006 und 2010, als viele der heutigen Projekträume gegründet wurden

CCB Magazin:Ein Resultat ihrer Studie lautet, dass 67 Prozent der Befragten von Berliner Projekträumen angeben, mit weniger als 5.000 Euro im Jahr auskommen zu müssen. In der Produktionsstadt Berlin können die Projekträume nur schwer überleben.

Séverine Marguin:Ja, darum muss man sich fragen, wie es die Projektraumbetreiber mit einem so geringen Budget überhaupt schaffen, so spannende Programme auf die Beine zu stellen.

CCB Magazin:Und, wie schaffen die das? 

Séverine Marguin: Drei Aspekte sind von Bedeutung: Es geht um Innovationskraft, Zwischennutzung, aber auch Selbstausbeutung spielt eine Rolle. Denn durch Zwischennutzungen verfügen viele Projekträume über günstige, aber keine gesicherten Mietverträge. Und Selbstausbeutung meint, dass sich die meisten Projektraumbetreiber für ihren Projektraum ehrenamtlich engagieren neben ihrer künstlerischen Tätigkeit und anderen eventuellen Brotjobs. Das kann zu einer gewissen Arbeitsbelastung führen.

CCB Magazin:Sie sprechen in Ihrer Studie von den „Goldenen Zeiten“ ab 2006. Was ist in dieser Zeit passiert?

Séverine Marguin:Die Goldene Zeit der Projekträume war zwischen 2006 und 2010: In dieser Zeit wurden viele der heutigen Projekträume gegründet. Es gab damals noch viele Freiräume und Berlin internationalisierte sich; viele internationale Künstler kamen nach Berlin. Seit 2010 sind die Projektraumgründungen aber wieder zurückgegangen, weil Freiräume in der Stadt weniger werden und die Mieten in der Stadt steigen.

Die französische Soziologin Séverine Marguin. Foto: S. Marguin.


CCB Magazin:Sie teilen die Entwicklung der Projekträume in drei Phasen ein. Welche sind das?

Séverine Marguin:Das ist zuerst die Pionier-Zeit der 1970/80er Jahre, sowohl in West- als auch in Ostberlin. Projekträume entstanden anfänglich im Westen in Schöneberg und später in Kreuzberg. In Ostberlin gab es Projektraumgründungen vor der Wende vor allem in Prenzlauer Berg. Nach der Wende setzte die „zweite Phase“ ein, damals noch in Berlin-Mitte. Nach dem Mauerfall sind in Berlin viele neue Projekträume entstanden. Die dritte Phase ist die ab 2002/2003.

CCB Magazin:In welchen Stadtvierteln sind die Projekträume heute am stärksten angesiedelt?

Séverine Marguin:Definitiv in Kreuzberg, Neukölln und Wedding. Aber auch in Prenzlauer Berg gibt es noch immer Projekträume, auch wenn viele dort mittlerweile schließen mussten, weil die Mieten explodierten und Zwischennutzungsverträge gekündigt wurden.

CCB Magazin:Sie sprechen in Ihrer Studie vom Nutzen der Projekträume für die Kunstszene Berlins. Welchen Zweck erfüllen Projekträume?

Séverine Marguin:Projekträume dienen in erster Linie der Kunst selbst: Ziel ist es, Kunst zu zeigen, die sonst nicht gezeigt wird oder gezeigt werden kann. Zugleich werden Diskurse über Kunst möglich. Außerdem positionieren sich die Projekträume kritisch gegenüber dem Kunstmarkt und seiner immer mehr auf Spekulation basierenden Logik.

CCB Magazin:Grenzen sich Projekträume auch darum von den Produzentengalerien ab, wie sie in ihrer Studie schreiben?

Séverine Marguin:Ja, Projekträume haben keinen marktorientierten Fokus, ganz im Gegensatz zu den Produzentengalerien. Produzentengalerien geht es vorrangig um Kunstvermarktung, Projekträume wollen keine Brücke zum Kunstmarkt schlagen.

CCB Magazin:Aber kann man sich diesem Markt überhaupt noch entziehen? Die Soziologen Karl-Werner Brand, Detlef Büsser und Dieter Rucht haben am Beispiel der Alternativbewegung der 1970er Jahre in Westdeutschland gezeigt, dass die Bewegung kritisch und marktunabhängig sein wollte, aber nie frei war von der öffentlichen Finanzierung. Sehen Sie das als Widerspruch, sich einerseits marktunabhängig zu positionieren, sich andererseits in Abhängigkeit qua Förderung zu begeben?

Séverine Marguin:Nein, das ist kein Widerspruch, das ist eine kulturpolitische Frage. Die öffentliche Hand muss Projekte unterstützen, die sozial und kulturell-künstlerisch wichtig sind. So wird der Bereich der zeitgenössischen Kunst in Berlin bislang noch stark vernachlässigt, ihm kommen nur 0,8 Prozent des Berliner Kulturhaushaltes zu.

CCB Magazin:Seit über einem Jahr sind die Projekträume in Verhandlung mit dem Berliner Senat über deren Absicherung. Erstmals gab es im letzten Jahr eine Projektförderung in Höhe von 210.000 Euro. Sehen Sie das als Fortschritt?

Séverine Marguin:Ja, wenngleich das Geld insgesamt nur wenigen Projekträumen und -initiativen zukommt. Sieben Projekte haben auf einen Schlag 30.000 Euro erhalten. Das ist viel Geld, auch wenn die Projekte dieses Geld sicher brauchen können. Man hätte das Geld aber auch auf viele verschiedene Projekte aufteilen können. Aber immerhin, es passiert was. 

Projekträume dienen in erster Linie der Kunst: Sie zeigen Werke, die sonst nicht gezeigt werden oder nicht gezeigt werden können

CCB Magazin:Sie betonen in ihrer Studie, dass Projekträume eine Bereicherung für Berlin sind. Welchen Nutzen haben Projekträume für die Stadt?

Séverine Marguin:Sie vernetzen, sie geben soziale, künstlerische und kulturelle Impulse. Projekträume tragen für einen interkulturellen Austausch bei. Die Ausstellungsanzahl in den Berliner Projekträumen beträgt jährlich um die 750. Im Durchschnitt präsentiert ein Kunstprojektraum die Werke von 20 Künstlern pro Jahr. Eine weitere wichtige Komponente für die ästhetische Leistung von Projekträumen betrifft die Förderung der sogenannten „emerging artists“, von unbekannten Künstlern. Projekträume vernetzen zwischen Künstlern, Kuratoren und einem interessierten und internationalen Publikum. Projekträume haben auch Einfluss auf eine soziale und solidarische Ökonomie.

CCB Magazin:Was meinen Sie mit „sozialer und solidarischer Ökonomie“?

Séverine Marguin:In einer sozialen und solidarischen Ökonomie verweigert man sich nicht grundsätzlich dem Markt, man vielmehr Ökonomie sozialer und gerechter gestalten. In Frankreich gibt es heute bereits Länderinstitute für die soziale und solidarische Ökonomie. In Deutschland spricht man hingegen noch immer von einer Zivilgesellschaft, von ehrenamtlichen und nicht-kommerziellen Engagement. In einer sozialen und solidarischen Ökonomie geht es darum, die Ökonomie in die Gesellschaft so einzubetten, dass das Geld zum Instrument und nicht zum Zweck wird; es geht darum, die Ökonomie sozialer und gerechter zu machen und das Soziale ökonomisch abzusichern.

CCB Magazin:Der alte Gegensatz von Kultur und Wirtschaft, Kunst und Ökonomie weicht sich also auf?

Séverine Marguin:In gewissen Teilen ja, man fordert eine Ökonomie, die frei von Spekulation ist, die sich sozial und solidarisch gestalten lässt. Diese Werte teilt man mittlerweile auch in nicht-kommerziellen Projekten. Karl Polanyi, der ungarisch-österreichische Wirtschaftstheoretiker, hätte gesagt, Projekträume betten die Ökonomie in die Kunst ein.

CCB Magazin:71 Prozent der aktiven Beteiligten in den Projekträumen arbeiten ehrenamtlich. Sind das Ihrer Meinung nach gute oder alarmierende Zeichen?

Séverine Marguin:Ehrenamt ist immer dann gut, wenn es der Allgemeinheit zu Gute kommt, und Kunst kommt in der Regel der Allgemeinheit zu Gute. Diese Form des Ehrenamts eröffnet Räume und bietet Möglichkeiten, so bezahlen die Projektraumbetreiber meist auch erst einmal ihre Künstler und nicht sich selbst. Zudem kümmern sich einige Projekträume vielerorts um die Nachbarschaft, arbeiten mit örtlichen Kitas zusammen oder kümmern sich um die Anwohner. Auf der anderen Seite birgt Ehrenamtlichkeit natürlich die Gefahr, dass es zu einer Form der Ausbeutung und Selbstausbeutung kommt. Das minimale Budget der Projektraumbetreiber deckt im besten Falle günstige Miet- und minimale Produktionskosten ab, in den meisten Fällen können sich die Projekträume nur über Zwischennutzungsverträge räumlich niederlassen. Erstere Tendenz ist ein gutes Zeichen, letztere ist durchaus alarmierend.

CCB Magazin:Frau Marguin, ich danke für dieses Gespräch.


Eine Übersicht über alle Berliner Projekträume gibt es hier.

 

Rubrik: Wissen & Analyse

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