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Marte Hentschel: „Berlin braucht Spezialisierungen und ein eigenes Expertentum“

Marte Hentschel: „Berlin braucht Spezialisierungen und ein eigenes Expertentum“
Foto: © Rian Davidson

Kleider machen Leute und Leute machen Kleider. Leute machen aber auch Netzwerke für Leute, die Kleider für Leute machen – so ähnlich funktioniert das neue Fashion Sourcebook, eine Austauschplattform für Modemacher und -produzenten zur Akquise und Vernetzung in Berlin. Was ist das Ziel? Was braucht die Berliner Modebranche? Wir waren vor Ort und haben mit Geschäftsführerin Marte Hentschel über die neue Plattform gesprochen.

 

INTERVIEW   JENS THOMAS

 

CCB Magazin: Hallo Marte, ihr habt gerade das neue Fashion Sourcebook gegründet, eine Austausch- und Vernetzungsplattform für die Berliner Modebranche. Um was geht es?

Marte Hentschel: Wir wollen eine Plattform in Berlin aufbauen, die neben der Recherche nach Dienstleistern oder Aufträgen vor allem Vernetzungsmöglichkeiten bietet. Was Berlin braucht, ist eine neue Infrastruktur, worüber komplexe Mode- und Textilprojekte möglich werden. Das Projekt ist aus einer Kooperation mit dem Netzwerk Nemona entstanden, die die Plattform mittels EU Förderung in Leben gerufen hat.

CCB Magazin: Wie genau funktioniert Fashion Sourcebook?

Marte Hentschel: Modemacher und Gewerbetreibende aus der Textilwirtschaft legen sich kostenfrei ein Profil an. Im Anschluss kann sich die Person präsentieren, neue Geschäftsbeziehungen knüpfen, Projekte und Kooperationen realisieren oder sich auch nur über Neuigkeiten aus dem Netzwerk informieren. Das Angebot ist kostenfrei.

CCB Magazin: In Berlin arbeiten rund 3.700 umsatzsteuerpflichtige Unternehmen in der Modewirtschaft mit rund 11.550 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Werden die freien Mitarbeiter, Selbständigen und geringfügig Beschäftigten hinzugezählt, liegt die Anzahl der Erwerbstätigen sogar bei 15.300. Was macht Berlin als Standort aus? 


Das Problem in Berlin ist, dass es keine gewachsenen Unternehmen im Bereich der Mode gibt
 

Marte Hentschel: Das Besondere an Berlin ist, dass es in der Stadt noch immer vergleichsweise günstige Räume gibt, man kann zudem Maschinen und Infrastruktur relativ einfach teilen. Auf der anderen Seite gibt es mittlerweile ein Überangebot an Gestaltung und einen immensen und auch unüberschaubaren Wettbewerb. In Berlin bilden jedes Jahr zehn Modeschulen 1.000 Absolventen aus und spülen sie auf den Markt. Das Problem ist, dass es in Berlin keine gewachsenen Unternehmen im Bereich der Mode gibt, die Festanstellungen anbieten. Das hat zur Folge, dass sich 75 Prozent aller Absolventen nach dem Studium selbständig machen, von ihrer Arbeit aber kaum leben können.

Arbeiten von Common Works in Izmir/Türkei bei einem türkischen Partnerkonfektionär. Foto: Phillip Zwanzig.

CCB Magazin: Berlin schielt immer wieder auf die großen Modemetropolen Mailand, Paris oder London, wo mehr Geld gemacht wird. Zugleich zeichnet Berlin gerade das Unfertige und Unkonventionelle aus. Sollte sich Berlin diese Marke bewahren oder international konkurrenzfähiger werden?

Marte Hentschel: Beides. Auf der einen Seite kommen gerade so viele Fashion Professionals nach Berlin, weil sie diese Überkapitalisierung der großen Modemetropolen satt haben. Denn in Berlin haben selbst kleinteiligste und niedrigschwelligste Businesscases eine Chance; Berlins größtes Talent ist einfach die Fähigkeit zur Improvisation und das sollte man sich bewahren. Auf der anderen Seite werden Projekte in den großen Modemetropolen von Beginn an stärker skaliert, weil die Hürden höher sind. Es wird dort auch anders gegründet, mit mehr Startkapital und oft mit mehr Planungsvorlauf. Das ist schon in Hamburg oder München so. 

Das Gute an Berlin ist: Hier haben selbst kleinteiligste und niedrigschwelligste Businesscases eine Chance​

CCB Magazin: Was müsste sich für Berlin folglich ändern?

Marte Hentschel: Was wir in Berlin brauchen, ist ein Angebot an Handwerk, Dienstleistern und verarbeitendem Gewerbe, denn das ist die Voraussetzung für eine prosperierende Infrastruktur. Es gibt in Berlin zwar viele schulische Einrichtungen für Schneiderausbildungen, aber nur eine Handvoll Betriebe, die Schneider ausbilden. Zudem brauchen wir Spezialisierungen und ein eigenes Expertentum. In Berlin ist jeder erstmal nur ein Generalist für sich selbst. Man muss hier als Modemacher 20 Berufsfelder von BWL über Marketing, Vertrieb bis hin zu visual Merchandising vereinen. Die eigentliche Stärke aber, eine Spezialisierung oder ein Expertentum, gerät in den Hintergrund. Das ist in Paris oder Mailand ganz anders.

CCB Magazin: Inwiefern? 

Marte Hentschel:In Paris oder Mailand gibt es Perlensticker, Federnsticker und gewachsene Handwerkstraditionen. Die eigene Profession steht im Mittelpunkt. Das Handwerk hat eine ganz andere Bedeutung. Es gibt dort Spezialisierungen in Kulturtechniken, die es sonst nirgendwo mehr auf dieser Welt gibt.

CCB Magazin: Was leistet ihr zur Verbesserung dieser Situation mit eurer neuen Plattform?

Marte Hentschel: Die Voraussetzung für eine bessere Infrastruktur ist Vernetzung. Wir verstehen uns darum auch als Lobby für die Branche, um diese Dinge gegenüber der Politik zu kommunizieren. In Berlin gibt es unheimlich viele Reibungsverluste durch zu wenig Transparenz. Hier wollen wir die Dinge gemeinsam mit der Branche angehen.

So funktioniert's: Millimeterarbeit bei Common Works. Foto: Phillip Zwanzig.

CCB Magazin: Ein Problem der Berliner und auch der deutschen Wirtschaft ist seit Jahren, dass die Kaufkraft zu schwach ist, darum Preise und Löhne niedrig bleiben. Wie löst man dieses Problem?

Marte Hentschel: Wir brauchen ein neues Verständnis von Kultur und Konsum, wodurch es zur Normalität wird, für gute Produkte angemessen zu bezahlen. In Deutschland kauft der Konsument in erster Linie preisbewusst. Das ist für die Modebranche aber ein Problem. Preise und Löhne bleiben niedrig. Zudem wird die Mode im Gegensatz zum Industrie- oder Produktdesign noch immer nicht als Kulturgut angesehen, sie gilt als Gebrauchs- oder Verbrauchsgegenstand. Das ist skandinavischen Ländern wie Schweden oder in südeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Spanien ganz anders. Dort gibt es eine stärkere Bindung zu nationalen Marken. Man kauft verstärkt heimische Marken und unterstützt so die lokale Wirtschaft.

Was wir in Berlin brauchen, ist ein Angebot an Handwerk, Dienstleistern und verarbeitendem Gewerbe, denn das ist die Voraussetzung für eine prosperierende Infrastruktur

CCB Magazin: Es gibt aber doch auch in Deutschland und gerade in Berlin eine zunehmende Regionalisierung von Kultur. Wie passt das zusammen?

Marte Hentschel: Ja, man produziert wieder vermehrt mit lokalen Rohstoffen regionale Produkte, aber die nationale Identifikation mit hier ansässigen Labels und Marken ist sehr schwach. Das hat natürlich auch mit unserer Geschichte zu tun, indem wir Nationales schnell als etwas Nationalistisches interpretieren. Es geht hier aber um Wertschätzung, indem wir für Kultur Geld ausgeben. Darum sollten wir auch vermehrt in Ressourcen und Materialien investieren, die von vor Ort sind, das stärkt zugleich den Nachhaltigkeitsgedanken. 

CCB Magazin: Der Nachhaltigkeitsforscher Stephan Bohle schlägt vor, umweltschonende Ressourcen künftig steuerrechtlich zu begünstigen und ein entsprechendes Starterkapital für Unternehmen bereitzustellen, die nachhaltig produzieren. Ist das eine Lösung?

Marte Hentschel: Ja, das wäre ein richtiger Ansatz. Zugleich sollte man aber eine ehrliche Folgekalkulation mit allen Umwelteinträgen für Unternehmen zur Pflicht machen. Das würde konkurrenzfähige Preise für Alternativprodukte nach sich ziehen, indem andere Produkte teurer würden. Es ist doch absurd, dass Modelabels selbst kleine Auflagen nach Fernost auslagern und Arbeitsplätze verschieben, nur weil es immer noch günstiger geht. Auch hier wollen wir ansetzen: Wir wollen eine kritische Masse zusammenzubringen, die gemeinsam die Marktmacht hat, auch wenn die Auflagen am Ende ganz kleinteilig bleiben.

CCB Magazin: Marte, vielen Dank für dieses Gespräch.


Profil von Marte Hentschel auf Creative City Berlin: www.creative-city-berlin.de/de/network/member/Sourcebook/

Profil von Sourcebook auf Creative City Berlin: www.creative-city-berlin.de/de/network/member/sourcebook_2/

Alle Infos zu Sourcebook findet ihr hier: www.sourcebook.eu


Anmerkung der Redaktion: Das Fashion Sourcebook heißt mittlerweile Sourcebook. Zudem wurde Sourcebook 2016 von Kreativ Kultur Berlin mit dem Siegel Berlin's Best ausgezeichnet. Alle Infos gibt es hier: www.creative-city-berlin.de/de/berlins-best/sourcebook/

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