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Sema Gedik und Jan Siegel: „Unser Ziel ist Normalisierung“

Sema Gedik und Jan Siegel: „Unser Ziel ist Normalisierung“
Foto: © Auf Augenhoehe

Auf Augenhoehe ist das erste Modelabel für Kleinwüchsige in Deutschland und sogar weltweit. Dahinter stehen die Gründer Sema Gedik, Laura Knoops und Jan Siegel. Wir haben Sema und Jan in ihrem Produktionsbüro in der HTW Berlin getroffen und wollen wissen, wie man ein solches Label auf den Weg bringt. Eine Begegnung auf Augenhöhe in Berlin-Oberschöneweide.  
 

 INTERVIEW Monja Remmers

 

CCB Magazin: Hallo Sema und Jan, wir sitzen hier in der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Was genau hat es mit diesem Ort auf sich?

Sema:In der HTW befindet sich unser Office. Hier arbeiten wir, ich studiere hier auch Modedesign, im Grunde laufen hier all unsere Fäden zusammen. Das heißt auch, dass wir unsere Schnittkonstruktionen hier erstellen und erste Prototypen produzieren. Wir sind aber auch in Kontakt mit den Mentoren und Professoren vor Ort. Meine Mentoren und Professoren begleiten sogar unsere Entwicklungen, die anstehen. Dass wir die Räume hier nutzen können, ist einer Förderung über das Berliner-Startup-Stipendium geschuldet, das ist sehr hilfreich.

CCB Magazin: Ihr seid das erste Modelabel für Kleinwüchsige in Deutschland und sogar weltweit. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, ein Modelabel für Kleinwüchsige zu gründen? 

Sema:Die Idee kam zunächst im Kontext mit meiner Familie auf. Meine Cousine Funda ist kleinwüchsig. Über all die Jahre musste ich erfahren, wie kompliziert es für sie ist, passende Kleidung zu finden. In meinem Modedesignstudium habe ich mich dann intensiv mit Kleidung für Kleinwüchsige beschäftigt. Und da wurde mir bewusst, wie wichtig ein Label für Kleinwüchsige sein kann. Zudem gab es noch kein Label und keine Marke, die explizit Mode für Kleinwüchsige Männer und Frauen herstellt.

Jan: Mein Zugang zu dem Thema war zunächst betriebswirtschaftlicher Natur, ich habe BWL studiert. Ich kenne Sema seit vier Jahren. Ihre Geschichte hat mich sehr berührt. Dann haben Sema und ich uns überlegt, wie wir dazu ein Modelabel aufziehen können.

 

 

 

 


 

 


CCB Magazin:Ihr seid in gewisser ein Sozialunternehmen mit ganz neuem Fokus. Berücksichtigt ihr bei der Produktion auch andere soziale oder ökologische Aspekte? So zum Beispiel chemiefreie Fasern oder faire Löhne für weitere Mitarbeiter?

Sema: Bei der Herstellung der ersten Kollektion haben wir uns zunächst auf die Forschung und Entwicklung konzentriert. In Zukunft werden wir uns aber auch mehr mit zertifizierten Materialien auseinandersetzen. Wir werden uns also auch mit anderen Prozessen der sozialen oder ökologischen Produktion beschäftigen, wir sind erst am Anfang. Wir produzieren aber auch jetzt schon lokal und arbeiten mit lokalen Designern zusammen. Zudem beziehen wir unsere Zielgruppe von Anfang an mit ein - auch das hat ja schon einen nachhaltigen und sozialen Aspekt.

Die größte Herausforderung ist es, erst mal entsprechende Proportionen zu erfassen. Bislang gibt es noch keine Konfektionsgrößentabelle oder Schnittkonstruktionen für Kleinwüchsige. Es gibt nicht mal entsprechende Vorlagen - darum habe ich alles selbst entwickelt 

CCB Magazin:Ihr designt eure Kleidung nicht nur selbst, ihr entwerft auch die bisher nicht vorhandenen Konfektionsgrößen für Kleinwüchsige. Was sind die größten Herausforderungen in diesem Prozess?

Sema: Die größte Herausforderung ist es, überhaupt erst mal entsprechende Proportionen zu erfassen. Bislang gibt es noch keine Konfektionsgrößentabelle oder Schnittkonstruktionen für Kleinwüchsige. Es gibt auch keine entsprechenden Vorlagen, so etwa aus Büchern, an denen man sich hätte orientieren können. Darum habe ich die Schnittkonstruktionen und Konfektionsgrößentabelle alle selbst entwickelt. Dazu musste ich Kleinwüchsige vermessen, im Anschluss konnte ich alles errechnen, zum Schluss habe ich erste Konfektionsgrößen entwickelt. Wir sprechen hier auch von der häufigsten Form der Kleinwüchsigkeit, der Achondroplasie, hier sind die Proportionen noch mal ganz andere: Die Arme sind kürzer und anders geformt, der Gesäßumfang ist viel kräftiger. Das alles bei der Erstellung der Schnittkonstruktionen mit einzubeziehen und den Standard zu ermessen, ist eine große Herausforderung.

CCB Magazin:Beschreibt doch mal euren Arbeitsprozess: Wie arbeitet ihr hier?

Jan: Am Anfang steht die Idee. Dann geht es um die Konkretisierung, und schon das ist ein demokratischer Prozess: Wir holen uns Feedback aus sämtlichen Richtungen ein, von den Kleinwüchsigen selbst, die sich immer wieder neu vermessen lassen, aber auch aus unserem Umfeld. Resultat ist, dass es in unserer ersten Kollektion Cardigans, Treggings, Blusen und Strumpfhosen für Frauen gibt, für Männer haben wir Hemden, Chinos und Collegejacken bereit.

Sema:Wir arbeiten zudem mit Fotografen, Kommunikationsdesignern und lokalen Schneidern zusammen, auch mit Verbänden und Laboringenieuren von der Uni, die uns weiterhelfen und unterstützen, wenn wir Fragen haben. Das Gute ist: Wir sind breit vernetzt, auch über unsere Uni hinaus. So hatten wir zum Beispiel gerade ein Cross-Media-Projekt mit der Dekra-Universität, die uns bei der Frage geholfen hat, wie man sich international einen Namen macht. Mit der Dekra-Universität haben wir auch unsere Strumpfhosenverpackung entwickelt.

Sitzt perfekt: die neue und erste Kollektion von Auf Augenhoehe. Foto: © Anna-Spindelndreier


CCB Magazin: Welche Distributionswege wählt ihr aus? Wie kommt eure Kleidung also zu den Kunden?

Sema: Unsere Kunden erreichen wir in erster Linie über unseren Online-Shop, der sich gerade im Aufbau befindet. Den Shop wollen wir spätestens im April/Mai launchen. Wir vermarkten unsere Kollektionen aber auch offline, und hier hauptsächlich über die Verbände und über jährliche Treffen für Kleinwüchsige, an denen wir teilnehmen.

Jan:   Wir sind noch ein kleines Label. Wir sind noch nicht auf dem Markt etabliert. Darum wollen wir erst mal gewisse Dinge austesten und uns darüber entwickeln. Es ist aber unser Ziel, in absehbarer Zeit größer zu werden. Wir wollen unser Sortiment erweitern. Dann werden wir uns auch weitere Möglichkeiten der Vermarktung und Distribution suchen.                                   

CCB Magazin:Die Designs eurer Kleidung sind modern und zeitlos. Woher kommt eure Inspiration? 

Sema: Inspiriert werden wir durch die vielen Gespräche, die wir mit Kleinwüchsigen führen. Wir fragen zum Beispiel: Wo sind die Probleme? Erzähl uns mal etwas über deine Problemzone. Wo scheitert es beim Kauf? Ist es wirklich so schwer, existierende Standartgrößen für eure Körperform zu finden? In den Gesprächen stellt sich dann meistens heraus, dass es gar keine Dreiviertel-Pullover, Strumpfhosen, passende Hemden oder Blusen für Kleinwüchsige gibt.

Jan:Wichtig ist uns, dass unsere Kollektionen von hoher Qualität sind. Sie sind zwar einfach, aber sie sind hochwertig verarbeitet. Das Detail, die Schnittführung, das Material, das hat alles einen hohen Anspruch bei uns, die Schnitte sollen die Leute ja gut aussehen lassen. Die Farben sollen ansprechend sein, die Kleidung soll einfach perfekt sitzen.

Schlicht, zeitlos, modern. So sieht die Kollektion von Auf Augenhoehe aus. Foto: © Anna-Spindelndreier


CCB Magazin: Glaubt ihr, wenn es erst einmal gängige Konfektionsgrößen für Kleinwüchsige gibt, dass die ein oder andere große Modefirma nachziehen könnte? Und was hätte das zur Folge? Werdet ihr als Label dann gar überflüssig, wenn beispielweise Zalando Konfektionsgrößen für Kleinwüchsige im Sortiment hat?

Jan:Das würde uns überhaupt nicht stören, im Gegenteil. Wir würden uns darüber freuen. Das wäre ja nicht nur ein Zeichen dafür, dass wir einen Diskurs ermöglicht haben und ein Problem in der Gesellschaft benannt hätten. Es würde auch bedeuten, dass Mode für Kleinwüchsige in der herkömmlichen Modeindustrie angekommen ist. Wir könnten uns sogar vorstellen, mit größeren Labels zu kooperieren.

Sema: Wenn größere Konzerne und Modelabels uns nachahmen und das gleiche entwickeln, sind wir glücklich, dass wir den Anfang gemacht haben. Das ist dann ja auch ein großes Kompliment an unsere Arbeit. Und es erhöht die Möglichkeit für Kleinwüchsige, einfach mal so wie jeder andere einkaufen zu können.

Wir wollen nicht separieren. Wir wollen Zugänge schaffen. Ziel von Auf Augenhoehe ist zu zeigen, wie man über Mode und Design Inklusion vorantreiben kann

CCB Magazin:In Deutschland gibt es circa 100.000 Kleinwüchsige. Gab es Reaktionen, die die Ausschließlichkeit von Kleidung nur für Kleinwüchsige als diskriminierend empfunden haben? Gab es zum Beispiel Kleinwüchsige, die sich durch euer Label diskriminiert fühlen?

Sema: Nein, das gab es bislang nicht. Warum auch? Vielmehr kam das Feedback: „Hey, cool. Endlich macht das mal wer und endlich werden wir in der Modeindustrie beachtet“. Es kamen sogar Reaktionen von Kleinwüchsigen, dass man sich ein Label wünscht, das sowohl für Kleinwüchsige als auch für Nicht-Kleinwüchsige Kleidung herstellt.

Jan: Wir wollen mit dem Label nicht stigmatisieren. Wir wollen auf keinen Fall sagen: „Hey, das sind hier die Kleinwüchsigen und die bekommen jetzt mal eine Sonderkollektion verpasst“. Unsere Kollektion ist gerade darum zeitlos, weil es einfach coole Kleidung sein soll und Kleinwüchsige nicht in eine Ecke drängt, sondern Kleidung egalitär erscheinen lässt. Ziel ist es, mit unserem Label Integration insgesamt voranzubringen und Spaltungen entgegenzuwirken. 

Sema:Ziel von Auf Augenhoehe ist zu zeigen, wie man über Mode und Design Inklusion vorantreiben kann. Das haben wir auch in unserer Crowdfunding-Kampagne versucht zu kommunizieren. Wir wollen mit Auf Augenhoehe nicht separieren. Wir wollen Zugänge schaffen.  

Jan:Das Ziel von Auf Augenhoehe ist eine Normalisierung. Zum Schluss sollen Kleinwüchsige die Möglichkeit haben, Mode von der Stange zu kaufen.

Foto: © Anna-Spindelndreier


CCB Magazin:Eure Zielgruppe ist begrenzt. Heißt das, dass ihr als Unternehmen auch nur bis zu einem gewissen Grad expandieren könnt?

Jan:Ja, bislang ist das so. Unser Ziel war aber von Anfang an, nicht nur den deutschen Markt zu bespielen, sondern europaweit aktiv zu sein. Das heißt, wenn wir expandieren, geht das zum einen nur über Ländergrenzen hinaus, zum anderen, indem wir irgendwann Kollektionen anbieten, die auch für andere Zielgruppen Sinn machen.

Zum Schluss sollen Kleinwüchsige die Möglichkeit haben, Mode von der Stange zu kaufen

CCB Magazin:Sema und Jan, was sind eure Ziele? Was wollt ihr noch alles erreichen und wo seht ihr Auf Augenhoehe in ein paar Jahren?

Jan:Ganz oben auf der Agenda steht bei uns derzeit, die Bestellungen der Supporter unserer ersten Crowdfunding-Kampagne auszuliefern, die bei uns eingegangen sind. Wir haben 13.000 Euro über unsere erste Crowdfunding-Kampagne eingenommen, jetzt geht es um die Realisierung. Darüber hoffen wir uns erst einmal neues positives Feedback.

Sema:Wir möchten uns etablieren. Und für unser Label heißt das, dass man weiß, dass bei Auf Augenhoehe die Kleidung einfach perfekt sitzt, dass die Qualität super ist, der Kunde sich in ihr wiedererkennt und sich wohlfühlt. Wir möchten, dass unsere Kleidung aber auch gesellschaftliche Relevanz hat. Wir wollen unsere Idee der Inklusionsmode und unser Label weiter entwickeln und dadurch unsere Reichweite erhöhen. Ziel ist es, dass sich auch Nicht-Kleinwüchsige über unsere Arbeit gegenüber den von uns angestoßenen Prozessen öffnen. Darum soll es demnächst in unserem Sortiment auch Produkte für Nicht-Kleinwüchsige geben.

CCB Magazin:Sema und Jan, vielen Dank für das Interview.


Profil von Auf Augenhoehe auf Creative City Berlin


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Rubrik: Innovation & Vision

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