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Neue performative Lagerfeuer

Neue performative Lagerfeuer
Foto: © Dajana Lothert

Immersive Installationen, Gaming Narrative, virtuelle Figuren: Die Performing Arts bringen nicht nur den technologischen Fortschritt auf die Berliner Bühnen. Sie inspirieren und entwickeln auch ganz neue Modelle des Erzählens und Performens, die die Art und Weise, wie wir in Zukunft Theater, Tanz, Performance und Kunst erleben, grundlegend verändern werden. Ein Streifzug durch die neue Wirklichkeit.
 

VON   JULIAN KAMPHAUSEN (arbeitet im Performing Arts Programm des LAFTs Berlin. Zusammen mit Alexandra Wolf hat er die Performersion gegründet, ein Austauschformat zwischen Digital und Performing Arts)

 

1. Die Performing Arts in Berlin bringen technologischen Fortschritt auf die Bühnen, mit gigantischem Potenzial!

Der Ort: die Neuköllner Kindl Brauerei. Wir begeben uns in den Keller des alten Flaschenlagers. Der Weg führt durch einen langen, gekachelten Gang, Sticker pappen an den Wänden. Wir betreten eine Lagerhalle, deren Größe sich im Dunkeln nur erahnen lässt. Weit hinten leuchtet ein Kreis aus Rindenmulch, der von alten Theaterstühlen umschlossen ist. Eine Frau und ein Mann in schwarzem Tennisdress und weißen Handschuhen schälen sich aus dem Dunkeln heraus. Sie legen mir eine gepolsterte Manschette um das Fußgelenk und haken sie an das Ende einer Stahlseilwinde. Langsam werde ich an den Füßen nach oben gezogen, bis ich einen halben Meter über dem Boden schwebe. Jetzt bekomme ich eine VR-Brille aufgesetzt. Zuerst sehe ich genau das gleiche wie zuvor: den Rindenmulch, die Theaterstühle ringsum. Aber dann höre ich etwas Großes, Schweres näher kommen: ein weißes Pferd tritt aus dem Dunkeln in den Kreis. Ist es echt oder eine Simulation? Ein weißes Band scheint das Pferd mit meinen Füßen zu verbinden. Langsam setzt es sich in Bewegung und beginnt mich immer schneller zu umkreisen, das Band umwickelt mich wie ein Kokon. Jetzt spüre ich den Atem des Pferdes im Gesicht. Echt?! Ja, denn obwohl alles nur im Display der VR-Brille erscheint, wirkt es auf mich absolut real. 

2. Die Reflexion bringt das Erlebnis: Digitale Technologien entfalten ihr Potenzial erst, wenn sie kritisch verwendet werden.

Das ist eine VR-Performance der Berliner Theater- und Performancekünstlerin Katharina Haverich, die im Rahmen von 48 Stunden Neukölln 2018 gezeigt wurde. Haverich ist nur ein Beispiel neuer, technologie-anwendender Kunst, die sich an vielen Orten in Berlin zurzeit entfaltet. Wer in den vergangenen Jahren Veranstaltungen wie Theater und Netz, Performersion, Theater der Dinge, A.Maze Festival, den Arts & Culture Track der re:publica oder bestimmte Produktionen am HAU, den Sophiensaelen, dem Ballhaus Ost, dem Theaterdiscounter und vielen weiteren Spielstätten besucht hat, weiß, auf welch hohem Niveau in Berlin mittlerweile ästhetisch und theoretisch in den Spannungsfeldern zwischen darstellenden Künsten und neuer Digitalität gearbeitet wird: immersive Installationen mit hochpolitischen Szenarien, virtuelle Figuren, die das Feld zwischen Mensch und Maschine bespielen, das Hacken der Smartphones im Publikum. Wird die Technik richtig eingesetzt, bringt sie die Geschichte auf eine ganz andere Ebene: Die Erzählung auf der Bühne verliert an Distanz, sie rückt näher, schreibt sich in ihr Gegenüber ein, wird immersiver, intimer, schneller. 

Beobachten lässt sich das auf zahlreichen Berliner Bühnen. So hat beispielweise die Berliner Firma Troikatronix mit „Isadora“ eine Standardsoftware für komplexe Vernetzungen von Bühnengeschehen und verschiedenen Videoprojektionen geschaffen. Das Performance-Kollektiv She She Pop nutzt „Isadora“ gemeinsam mit dem Videodesigner und Fotografen Benjamin Krieg, um ein komplexes, völlig neues Bühnensetting für die Produktion “50 Grades of Shame” zu entwickeln: Mehrere Performer*innen werden gleichzeitig von mehreren Kameras gefilmt. Teile ihrer Körper sind in schwarzen Stoff gehüllt, andere im Kostüm, wieder andere nackt. Aus den verschiedenen parallelen Videokanälen wird mit Hilfe der Software ein collagiertes Bild der sichtbaren Körperteile aneinander gemorpht, danach werden sie als neue, “utopische” Körper projiziert, die so noch niemand live gesehen hat. Rote, volle Lippen sprechen aus dem Gesicht eines alten Mannes, das auf dem Oberkörper einer Frau mit behaarten, muskulösen Männerarmen zu sitzen scheint. Fast unerträglich nah erlebe ich in diesem Moment im Zuschauerraum, wie sich Körperscham und Leistungskörpergedanken bei mir mischen, durcheinander gewirbelt werden.

Algorithmus, das klingt irgendwie nach Mathematik-Leistungskurs. Tatsächlich kam der Begriff aber schon im neunten Jahrhundert auf und geht auf den in Persien lebenden Mathematiker Al-Chwarizmi zurück. Den ersten für einen Computer gedachten Algorithmus entwickelte 1843 die britische Mathematikerin Ada Lovelace – heute sind Algorithmen allgegenwärtig, sie bestimmen unser Leben und wichtige Alltagsentscheidungen. Das Theaterkollektiv Turbo Pascal thematisiert die Macht heutiger Algorithmen in ihrer Performance „Algorithmen“.  Foto © Gernot Wöltjen
 

3. Algorithmen nicht erdulden, sondern performen! Digitale, automatische Entscheidungssysteme beeinflussen Lebensbereiche, die uns neue Abhängigkeiten aufnötigen. In Berlin entwickeln freie Gruppen algorithmische Modelle, die ethische, politische und ästhetische Auswege sein können – das reicht bis zu eigenen digitalen Währungen für Veranstaltungen.

Algorithmen sind omnipräsent. Sie entscheiden darüber, welche Nachrichten ich sehe und was ich über die Welt erfahre. Wenn ich etwas zum Anziehen bestellen möchte, regeln sie, welche Auswahl mir erscheint. Algorithmen bedeuten Macht und mit dieser Macht verstärken sich aktuell monopolistische Marktstrukturen. Gerade in der Freien Szene Berlins wird die Macht der Algorithmen aber ins Gericht genommen und konstruktiv verkehrt. Zum Beispiel hier: In ihrer Produktion “Algorithmen” ließ die Berliner Gruppe Turbo Pascal das Publikum sich selbst nach gängigen Profilalgorithmen und anderen Kriterien in unterschiedlichste Konstellationen sortieren. Wir erhalten Fragen, die in der Realität von Algorithmen beantwortet werden: Wem der Anwesenden würde ich 200 Euro leihen? Verberge ich meine IP-Adresse oder nutze ich verschlüsselte Emails? Wähle ich rechts oder rechtskonservativ? Kann ich mit einer Schusswaffe umgehen?Habe ich eine Wohnung? Ich erlebe hier von Angesicht zu Angesicht wie Algorithmen in uns wirken, nämlich durch unser unbewusstes Sortierverhalten und der darin liegenden Macht der Kategorisierung. Durch die Übertragung der Handlungsmacht des algorithmischen Sortierens sind wir alle gleichzeitig Täter*innen und Opfer, aber auch Erforscher*innen digitaler Macht.

Digitale, automatische Entscheidungssysteme nötigen uns neue Abhängigkeiten auf. Anstatt sich aber nur an „alten“ automatisierten Entscheidungssystemen abzuarbeiten, formen die ersten Künstler*innen mittlerweile ganz neue Modelle, wie wir Kunst machen und finanzieren können: So lässt das Berliner Kollektiv Omsk Social Club die Besucher*innen ihrer sogenannten Cryptoraves im Vorfeld der Veranstaltung eine eigene digitale Währung “minen“ – mit Hilfe der Blockchain-Technologie. Dazu muss ich auf meinem Computer zunächst eine digitale „Monero“-Münze errechnen, erst dann erfahre ich Ort und Zeit der Veranstaltung – gleichzeitig bilden die neu erschaffenen digitalen Münzen das Budget für das Cryptorave. Aber nicht nur die Finanzierung ist „crypto“, auch die Identitäten des Publikums werden verborgen. Den Teilnehmer*innen werden neue Biografien zugewiesen, die sie mit den anderen improvisierend erforschen und weiter erfinden können. Ich tanze nicht als Julian, sondern als Laurent, FinTech-Ingenieur aus Genf, der vor einem halben Jahr aus der Businesswelt ausgestiegen ist. Jetzt sucht er in Berlin nach seiner Jugendfreundin Donna, die allein sein Geheimnis kennt. Und während ich so tanze zwischen all den Menschen und Figuren und Bier trinke, das von meinem Computer aus bezahlt wurde, indem ich vorab eine Rechenaufgabe lösen musste, um mit der digitalen „Monero“-Münze bezahlen zu können, denke ich über eine Welt nach, in der die Menschen performen und neue Lagerfeuer anzünden: Menschen folgen ihrem künstlerischem Impuls, sie beginnen einfach. Dank der digitalen Technologien brauchen sie auch keine großen Bühnenhäuser, Intendanten, Verleger, Feuilletonredakteure mehr, um ein Publikum zu erreichen. Während Algorithmen uns lenken und die Digitalisierung Macht- und Marktkonzentration verschärft, entwickeln freie Gruppen in Berlin algorithmische Modelle, die ethische, politische und ästhetische Auswege sein können. Algorithmen werden nicht erduldet, sie werden performt. Und erst die Reflexion bringt das Erlebnis. Ich bin gespannt, wie alle diese Geschichten weitergehen. Ich hoffe, Sie auch.

 

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