Nachhaltigkeit, Corona Zurück

Marte Hentschel: „Die Modewirtschaft braucht eine Post-Corona-Vision“

Marte Hentschel: „Die Modewirtschaft braucht eine Post-Corona-Vision“
Foto: © Daniel Gebhardt

Die Produktion von Modeartikeln ist durch Corona komplett eingebrochen, wie viele am Ende überleben, ist nicht klar. Klar ist aber auch, dass der Bedarf an Schutzmasken und Hygieneartikeln steigt – und die Berliner Modebranche das für sich nutzen kann. Rettet das womöglich die Modeindustrie? Wir sprachen darüber mit Modeexpertin Marte Hentschel von Sqetch

 

INTERVIEW   JENS THOMAS

 

CCB Magazin: Hallo Marte, der Markt der Modeindustrie bricht gerade komplett ein. Oder täusche ich mich da? 

Marte Hentschel: Nein, da täuschst du dich nicht. Die Modeindustrie verbucht einen erheblichen Umsatzrückgang, aktuell sind das um die 35 Prozent. Laut Umfrage des Fashion Council Germany rechnet die deutsche Modewirtschaft dieses Jahr sogar mit Umsatzeinbußen von 50 Prozent. Auch der E-Commerce, der ebenfalls um 20 Prozent eingebrochen ist, wird das nicht auffangen können. Denn die Lieferketten sind aufgrund der Abhängigkeit von globalen Warenströmen fast komplett zusammengebrochen. Die meisten Labels und Hersteller haben in den vergangenen 30 Jahren ihre Produktion einfach oft komplett in Niedriglohnländer ausgelagert. Uns bei Sqetch betrifft die Krise auch. Wir mussten gerade Soforthilfe II beantragen, das sind 14.000 Euro an Zuschuss, das deckt aber nur das Nötigste für ein paar Wochen. Ein aktuelles Projekt mit einer neuen Festanstellung mussten wir ganz auf Eis legen. So geht es momentan vielen. An Modeartikeln besteht aktuell kaum Bedarf. 

CCB Magazin:Was ist der Grund dafür? 

Marte Hentschel: Im Homeoffice sitzt es sich in der Jogginghose am bequemsten. Außer bei Hygienetextilien und Sportbekleidung sind die Umsätze bei fast allen Produktgruppen zurückgegangen. Besonders für die große Zahl an Independent Labels, die in puncto Lieferkonditionen und Zahlungsmodalitäten nicht mit den großen Online-Händlern mithalten können, ist das eine äußerst schwierige Situation. Viele Labels entwickeln aktuell auch keine Kollektionen mehr für die nächste Ordersaison, weil nicht klar ist, ob und wann die Messen und Fashion Weeks wieder stattfinden. Das wird vor allem viele kleine Labels den Kopf kosten.

CCB Magazin:Es werden aber Schutzmasken und Hygieneartikel benötigt. Ist das nicht ein Markt, den man konkret bedienen kann? 

Marte Hentschel:Auf jeden Fall. Das passiert ja auch. Es gibt in Berlin hunderte Menschen, die gerade Schutzmasken produzieren, und darunter sind neben vielen Laieninitiativen, die sich einfach mal ausprobieren, auch professionelle Modemacher, die sowohl kommerziell als auch ehrenamtlich den immensen Bedarf versuchen zu decken. Zudem gibt es ein dutzend Faceboook-Gruppen, die sich zu Schutzmaskenproduktion austauschen. Deinemaske.de ist zum Beispiel ein Zusammenschluss von Berliner Labels, die sich gerade organisieren. Das zeigt, wie kreativ und unternehmerisch die hiesigen Akteure auf Krisen reagieren, das ist aber freilich keine langfristige Lösung. Nach Corona wird es an Masken keinen Bedarf mehr geben. Es wird am Ende sogar eine Marktbereinigung zur Folge haben. 

Die Corona-Krise wird am Ende eine Marktbereinigung zur Folge haben. Zugleich ist das eine Chance für neue mutige, innovative Ideen. Die, die sich schon jetzt an den digitalisierten Markt und an die hohe Nachfrage nach wertebasierten nachhaltigen Konzepten angepasst haben, werden langfristig eine Chance haben

CCB Magazin:Inwiefern? 

Marte Hentschel:Nicht alle werden die Krise überleben. Viele von denen, die jetzt Kredite aufnehmen müssen, haben im Anschluss ein richtiges Problem, da sich die Umsätze nur langsam erholen werden. Die Modewirtschaft ist schnelllebig und Produkte haben oft eine kurze Lebensspanne über weniger als eine Saison, das reduziert den Raum an Kreativität und nachhaltigen Geschäftsmodellen enorm. Zugleich ist das eine Chance für neue mutige, innovative Modemacher, die sich schon jetzt sowohl an den digitalisierten Markt als auch an die hohe Nachfrage nach wertebasierten nachhaltigen Konzepten angepasst haben. Genau diese werden in Zukunft eine Chance haben. 

CCB Magazin:Aber geht es aktuell nicht um etwas ganz anderes? Werden nachhaltige Standards nicht völlig außer Kraft gesetzt? Es geht um Produkte, die schnell zu haben sind – und die den Hygienemaßnahmen entsprechen. 

Marte Hentschel:Das ist richtig. Das Interessante ist aber, dass die Nachfrage an nachhaltigen Modeartikeln in der Corona-Krise sogar gestiegen ist. Natürlich geht es jetzt erst mal darum, den Bestand an systemrelevanten Gütern wie Schutztextilien zu sichern. Uns allen wird derzeit die Verletzlichkeit unserer Lebensstile bewusst, und genau das führt zu mehr Solidarität im Privaten wie im Beruflichen. Neben regionaler Produktion und ökologischen Materialien geht es in Zukunft aber vor allem um Qualität und Kreislauffähigkeit. Darum werden die Masken schon jetzt langlebig, waschbar und wiederverwendbar hergestellt, auch, weil die Lieferketten aus Fernost abgebrochen sind. Die Maskenfertigung ist derzeit eine Übung in dezentraler Gemeinschaftsproduktion für das Berliner Mode-Ökosystem, eine Infrastruktur, die vielleicht für zukünftige Szenarien wie ‚Made-in-Berlin‘ genutzt werden kann. 

CCB Magazin:Wenn du der Krise etwas Positives abgewinnen müsstest. Was könnte das sein? 

Marte Hentschel:Wir könnten das Wettbewerbsdenken überwinden. Man arbeitet nicht gegeneinander, sondern miteinander, denn alle sind gleichermaßen betroffen. Viele empfinden das Korsett der Order- und Saisonzyklen schon jetzt als beengend, mit geringer Wertstiftung der eigenen Arbeit und wenig Raum für Kreativität. Das wird einem nach der Krise noch bewusster werden. Die Berliner Kreativwirtschaft hat darum die Chance, sich völlig neu zu erfinden. Es könnte zur längst überfälligen Neuordnung des Modesystems kommen. Was wir brauchen, ist eine mutige und ganzheitliche Post-Corona-Vision der gesamten Modewirtschaft. Eine Ökonomie, die nur noch auf Take-Make-Waste setzt, wird es nach Corona nicht mehr geben. 


Du suchst Infos zu Soforthilfemaßnahmen in Zeiten von Corona? Wir haben alle Infos für dich zusammengestellt.

Hier findest du zusätzlich wichtige FAQs zur Soforthilfe II

 

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