Nachhaltigkeit, Gründung Zurück

Tote Hosen doch nicht tot

Tote Hosen doch nicht tot
Foto: © Jens Thomas

Die Jeanshose ist 150 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch! Erfunden hat sie Levi Strauss 1847. In den 1950ern wurde die Jeans zum Markenzeichen von Aufbegehren und Anderssein - mit Nachhaltigkeit hatte das nichts zu tun. Das Designstudio A New Kind of Blue will das ändern: Es recycelt alte Jeansstoffe und setzt neue ökologische Impulse - tote Hosen werden hier lebendig. Wir haben Tim van der Loo und Sandra Nicoline Nielsen besucht und gefragt: Wie stellt man die Jeans nachhaltig her?
 

Text Boris Messing   und   Jens Thomas

 

Krossener Straße Ecke Gryphiusstraße. Ein Hund pinkelt an ein Fahrrad, sein Herrchen steht in Joggern da und schaut gelangweilt zu – so kennt man Friedrichshain, immer für einen Witz zu haben. Wir sind verabredet mit Tim van der Loo und Sandra Nicoline Nielsen, die nichts geringeres wollen als die Modeindustrie in ein neues, kreislauffähiges Zeitalter zu führen. Tim begrüßt uns freundlich, wir quetschen uns mit Masken bestückt in die kleine Küche, der Kaffee kocht, los geht‘s.  

Der Ort: Eine Art Coworking-Space in Friedrichshain, wo sich Modemacher und Textilvisionäre sammeln und arbeiten. Im vorderen Bereich rattern die Nähmaschinen und es wird an Schnittmustern gearbeitet. Im hinteren Bereich sitzt das neue Blau: das Label A New Kind of Blue. Das Designstudio ist eines von unzähligen Unternehmen und Projekten, die sich Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben haben. Mit ihrem aktuellen Projekt New Blue sind sie aber nahezu die einzigen, die sich auf Textilien spezialisieren und neue Jeans aus recycelten Jeansstoffen herstellen. Das Problem: Konventionelle Jeans werden in der Regel unter hohem Chemikalieneinsatz hergestellt. Der beliebte Used-Look wird durch Sandstrahlen erzeugt – wobei der austretende Staub bei ungeschütztem Arbeiten zur tödlichen Silikose („Staublunge“) führen kann oder mittels aggressiver und gesundheitsgefährdender Chemikalien vorangetrieben wird. Und selbst bei Bio-Jeans-Produktionen wird in hohem Maße Wasser verbraucht, auch wenn giftige Chemikalien durch umwelt- und gesundheitsschonendere Substanzen ersetzt werden. Wie löst New Blue das Problem?

Tim van der Loo und Sandra Nicoline Nielsen fangen an zu erzählen: Ihr Ziel sei es, aus Altem Neues zu formen, das spare nicht nur Ressourcen. Man wolle auch ein neues Konsumbewusstsein prägen, denn das bisherige Prinzip der Modeindustrie sei schnell erzählt, es funktioniert so: "Take-Make-Waste". Baumwolle wird geerntet und in Rekordtempo zu einem Produkt verarbeitet. Im Anschluss wird die Ware billig verkauft und nach Benutzung verbrannt oder auf der Müllhalde entsorgt. Das alles, sagt Tim, sei ein linearer Prozess, die Qualität der Produkte sei meist gering und die Klamotten würden vom Kunden rasch durch neue ersetzt oder weggeworfen. Bewusst geworden sei ihm das Problem, als er vor zwei Jahren für den Textilhafen der Berliner Stadtmission arbeitete, einer Non-Profit Organisation, die Kleider für Obdachlose sammelt. Vierzig Tonnen Kleidung seien dort pro Monat angekommen, erzählt er, aber nur 15 Prozent davon waren benutzbar, der Rest hatte Flecken oder war zu alt und wurde weggeschmissen. So kam ihm die Idee des Recycling-Konzepts von New Blue. Er fragte sich, wie kann man die alten Jeansstoffe nutzen, um neue Textilien daraus zu machen? Und vor allem für die tradierte Jeans gab es keine Verfahren. Nach seiner Graduation 2019 an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin bekam er ein Stipendium von der Designfarm Berlin, um die Entwicklung von New Blue zu verwirklichen. Die 33-jährige Dänin Sandra Nicoline Nielsen, die er einige Jahre zuvor bei einem Festival zur Kreislaufwirtschaft kennengelernt hatte, schloss sich ihm an. Im letzten Jahr wurden sie für ihre Arbeit mit dem Bundespreis Ecodesign ausgezeichnet. 

New Blue ist der Versuch, ein neues Konsumbewusstsein zu prägen - gegen das Take-Make-Waste-Prinzip der Modeindustrie, gegen die Wegwerfmentalität der Konsumenten

Wie stellt man die Jeans nachhaltig her? Wir wechseln den Raum und gehen dazu direkt in die Produktionsstätte. Tim zeigt uns die Schnittmuster, die durch seine Recycling-Methode entstanden sind: Er holt die zerlegten Teile aus einem Sack, aus dem er Neues formt; Neues aus zerrissenen Hosenresten, was man gewöhnlich wegschmeißen würde. New Blue verbindet zwei Technologien: Die sogenannte Vliesbildung und digitale gestützter Stickerei. Die Technik der Vliesbildung hat Tim zusammen mit dem Sächsischen Textilforschungsinstitut entwickelt; die alten, fleckigen oder anderweitig nicht verwendbaren Jeansstoffe werden dabei in ihre faserigen Bestandteile zerrissen und getrennt, anschließend wird aus den Fasern durch Kardieren und Vlieslegen ein Vlies gebildet. Durch die zweite Technik, eine digital gestützte industrielle Stickerei, wird das Vlies in einem letzten Schritt zu einem stabilen Stoff verfestigt, aus dem sich dann Schnittmuster für Hosen machen lassen - tote Hosen werden hier wieder lebendig.

 

Dabei gleichen die Hosen keinen gewöhnlichen Jeans, sie sind dicker, flauschiger, eher was für kalte Tage und warme Gedanken. Das Besondere am Verfahren: Für diese Recycling-Methode werden weder Chemikalien verwendet noch wird Wasser wie bei der herkömmlichen Jeansproduktion verbraucht. Tim schildert, dass man so dem "Take-Make-Waste"-Prinzip entgegenwirken wolle. Sandra ergänzt und veranschaulicht den Prozess in Zahlen. Der ökologische Fußabdruck - sie zitiert dazu den weitbeachteten Bericht „A New Textiles Economy“ der Ellen MacArthur Foundation - sei bei der Fashion-Industrie eine Katastrophe: Der CO2-Ausstoß lag im Jahr 2015 mit 1,2 Milliarden Tonnen so hoch wie der internationale Flug- und Schiffverkehr zusammen. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass ein Wert von 500 Milliarden Dollar jährlich durch die Wegwerfmentalität und den Mangel an Recycling von Kleidung im Müll landen würden - bei einer Wertschöpfung von insgesamt 1,3 Billionen Dollar ist das eine gewaltige Summe. Nur ein Prozent der Kleidung wird weltweit recycelt. Die Chemikalien zur Herstellung von Kleidung wie beispielsweise Färbe- und Bleichmittel und Mikroplastikpartikel, die durchs Waschen in die Gewässer gelangen, sind ein ernstzunehmendes Umweltproblem. Umweltorganisationen und Fashion-Playern ist das bewusst, ändern tut sich dagegen wenig.

Der CO2-Ausstoß der Modeindustrie ist mit 1,2 Milliarden Tonnen so hoch wie der internationale Flug- und Schiffverkehr zusammen. Kleidung im Wert von 500 Milliarden Dollar wird jährlich weggeworfen - bei einer Wertschöpfung von 1,3 Billionen Dollar insgesamt eine gewaltige Summe

Bei New Blue wird täglich an Veränderungen gearbeitet. Die Methode, sagt Tim, ließe sich theoretisch beständig wiederholen. Das Produkt müsse auch nicht unbedingt aus Jeansstoff sein, die Technik könne beispielsweise auch auf Polyester oder Wolle angewendet werden. Wichtig sei ihm auch die Ästhetik. Jede Hose bekomme hier „eine Geschichte“, die sich, so die Idee, endlos fortsetzt. „Das System der Kreislaufwirtschaft wird die Welt verändern“, ist Sandra überzeugt. Sie ist studierte Techno-Anthropologistin und hat selbst im Bereich des Müllmanagements gearbeitet. Noch befindet sich das Hosen-Duo in der Protophase. Der Weg zu einem Produkt, das sich jeder leisten kann, ist noch weit, zumal es den beiden Schöpfern wichtig ist, lokal zu produzieren und faire Löhne zu garantieren. Derzeit arbeiten sie mit einem Textilforschungsinstitut in Spanien daran, nachhaltige Färbemethoden zu finden - mit ersten Erfolgen.

Vlies-Bandarbeit der anderen Art: Alte Jeans-Stoffreste werden, nachdem sie in ihre faserigen Teile zerkleinert wurden, zu einem neuen Vlies gebildet. Foto: Jens Thomas

Aber kann man von den Hosen leben? Tim zeigt uns eine Jacke, die genauso wenig nach Jeans aussieht wie die Hose. An der Wand hängt der Prototyp eines Jeans-Hausschuhes. "Das könnte ein weiteres Produkt für die Zukunft sein", sagt Sandra. Wie es weitergeht, wisse man noch nicht. Derzeit kommt das Duo über das Stipendium von Re-Fream über die Runden, um die Entwicklung von New Blue voranzutreiben, danach käme der nächste Schritt. Ob sich das Produkt jedoch im Anschluss kommerziell vermarkten lässt, hinge letztlich auch von möglichen Partnern ab, mit denen man zusammenarbeiten will, sagt Sandra. Man könne sich auch vorstellen, direkt für die Marke Levis zu produzieren. Die Frage ist nur, ob die Öko-Hose dann nicht einfach von der Konkurrenz hergestellt wird. Immer mehr Modeketten schreiben sich Nachhaltigkeit auf die Fahnen. Das belegt nicht nur der Report "Pulse of the Fashion Industry". Im Juni 2021 wurde auch ein neues Lieferkettengesetz verabschiedet, das Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern ab 2023 zu mehr Nachhaltigkeit zwingt, wenngleich das Gesetz einige Schlupflöcher bereit hält und Arbeits- und Umweltschutz in der Modeindustrie problematisch bleiben.


New Blue - New Future? Foto: Jens Thomas

Alles in allem zeigt unser Besuch: Die Jeanshose lebt. Sie ist jetzt 180 Jahre alt. Erfunden hat sie Levi Strauss 1847. Jetzt wird sie neu erfunden. Zuerst von den Arbeitern, Farmern und Cowboys in Amerika getragen verbreitete sich die Jeans nach dem Zweiten Weltkrieg auf der ganzen Welt. Vor allem in den 1950ern wurde sie zum Markenzeichen von Aufbegehren und Anderssein - ökologisch war die Hose aber nie. Schauspieler wie Marlon Brando machten sie populär, die Jeans wurde zum Statement gegen Konvention und überkommene Moralvorstellungen - jetzt bekommt die Jeans womöglich einen neuen Spin: Sie wird nachhaltig umfunktioniert und entworfen. Sie könnte künftig gar ein Statement gegen überbordende Wegwerfmentalität sein. So fangen schöne Geschichten immer an und so ändert sich die Welt - und damit endet auch unser Gespräch. Wir verabschieden uns mit Faustschlag aus 1,50 Abstand, rücken die Maske noch mal gerade und werfen einen letzten Blick auf die Schnittmuster. Draußen ist es bitterkalt. Kein Hund in Sicht.


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