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Foto: © Marcus Tucker Photography

ADHS und andere neurobiologische Störungen sind in der Musikindustrie allgegenwärtig. Tristan Hunt ist einer der ersten Coaches mit einer einzigartigen Expertise in der Musikindustrie, der Menschen mit ADHS im Musikgeschäft hilft. Auf der diesjährigen Most Wanted Music sprach er über seine Erfahrungen. 
 

INTERVIEW  Boris Messing

 

CCB Magazin:Hallo Tristan, du bist ein ADHS-Coach für Musiker*innen und Fachleute aus der Musikbranche. Warum brauchen Menschen in der Musikindustrie einen speziellen Coach nur für sie? Kann das nicht jeder ADHS-Coach machen?

Tristan Hunt:Es ist so, meine Kunden müssen nicht erklären, in welchem Kontext sie arbeiten. Ich habe 20 Jahre lang in der Musikindustrie gearbeitet, ich verstehe die verschiedenen Rollen in der Musikindustrie, in denen sie tätig sind. Sie können also ihr ADHS im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Rolle erklären. Das macht den Prozess für sie sehr viel einfacher und schafft von Anfang an ein starkes Verständnis zwischen uns. Ich habe diesen Prozess selbst durchlaufen, als bei mir spät im Leben ADHS diagnostiziert wurde. Danach habe ich mich umgesehen. Es gab eigentlich niemanden, der die Erfahrung in der Musikindustrie und das Fachwissen über ADHS hatte, um Menschen in dieser Lage zu helfen.

CCB Magazin:Und deshalb bist du zum Coach geworden, um den Menschen mit ADHS zu helfen.

Tristan Hunt:Genau. Die Sache ist, dass wir wissen, dass die Musikindustrie und die Kreativwirtschaft im Allgemeinen viele neurodiverse Menschen anziehen. Menschen mit Tourette-Syndrom, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie - all diese wunderbaren neurodiversen Zustände ermöglichen es ihnen, besonders kreativ zu sein.  

CCB Magazin:Wie hängt ADHS mit Kreativität zusammen? Ist es nicht eher ein Handicap?

Tristan Hunt:Wir würden es nicht als Handycap oder Krankheit bezeichnen, obwohl es in vielen Ländern als solches eingestuft wird. Der Grund dafür ist, dass neurodiverse Geisteszustände oft noch immer mit vielen Stigmata behaftet sind. Ich habe aber eine andere Perspektive und sehe mehr die Stärken daran. Der Grund, warum sie nämlich in der Musikindustrie erfolgreich sind, ist, dass sie diese neurodiverse Kondition haben. Das kann definitiv einige Herausforderungen mit sich bringen, wenn es darum geht, Rechnungen pünktlich zu bezahlen, Rechnungen zurückzuschicken, Formulare auszufüllen, auf langweilige E-Mails zu antworten und dergleichen mehr. Dinge, die sich wiederholen oder eher langweilig sind. Bei ADHS denkt das Gehirn auf nicht-lineare Weise. Anstatt von A nach B zu denken, macht es Umwege, geht hin und her und drunter und drüber - was fantastisch ist, um neue kreative Ideen zu entwickeln!

Die Musikindustrie zieht eine Menge neurodiverser Menschen an. Menschen mit Tourette-Syndrom, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie - all diese wunderbaren neurodiversen Zustände ermöglichen es ihnen, besonders kreativ zu sein

CCB Magazin:Die meiste Zeit deiner jüngsten Karriere hast du für die Association for Electronic Music gearbeitet. Was hast du dort gemacht? Und wie bist du dort gelandet, wo du jetzt bist?

Tristan Hunt:In den späten 90er Jahren habe ich angefangen, in Nachtclubs zu arbeiten. Und dann habe ich mein Sommersemester an der Universität in allen möglichen verrückten und wunderbaren Clubs auf Ibiza verbracht und Lasershows gemacht. Später habe ich dann für Veranstaltungsfirmen im Bereich der Produktion gearbeitet. Das führte dazu, dass ich direkter mit Künstlern zusammenarbeitete, z. B. als Bühnenmanager, und ich arbeitete auch für Festivals, Clubs und Plattenfirmen im Vereinigten Königreich, in Spanien und in Australien. Als ich nach all dem wieder nach London zurückkehrte, konzentrierte ich mich mehr auf den Urheberrechtsschutz und andere rechtliche Fragen in der Musikindustrie. Und schließlich wurde ich Mitglied der Association For Electronic Music und wurde zweimal in den Vorstand gewählt, wo ich 2,5 Jahre lang tätig war. Dann ergab sich ein Jobangebot und ich hatte die Chance, weitere vier Jahre im Kernteam der AFEM zu arbeiten. Und vor etwa zwei Monaten habe ich mein eigenes, auf die ADHS-Musikbranche spezialisiertes Coaching-Unternehmen gegründet.

CCB Magazin:Du hast selbst ADHS, aber die meiste Zeit deiner Karriere wusstest du es nicht und hast einfach weitergemacht. Was hat sich in deinem Berufs- und auch im Privatleben geändert, nachdem du die Diagnose erhalten hast?

Tristan Hunt:Für viele Menschen ist es ein einschneidender Moment, wenn sie die Diagnose ADHS erhalten. Plötzlich wird so vieles in ihrem Verhalten erklärt, Dinge, die sie vorher nicht verstanden haben. Ich flog zu Konferenzen, sprach auf Podien über psychische Gesundheit und eine ganze Reihe anderer Themen in der Musikindustrie, ich arbeitete auf hoher Ebene mit Interessenvertretern und so weiter und deckte jeden Aspekt der Branche ab. Und ich habe es geschafft, einen Master-Abschluss zu machen usw. Aber gleichzeitig hatte ich Probleme, meine Rechnungen zu bezahlen. Ich hatte Mühe, mein Geld zu verwalten. Ich hatte Mühe, meine Termine einzuhalten und pünktlich zu erscheinen. Ich fühlte mich ständig überwältigt. Es war schwer für mich, den Kopf über Wasser zu halten. Und ich konnte nie herausfinden, warum. Ich verglich mich ständig mit Gleichaltrigen und Freunden, mit Leuten, mit denen ich zusammenarbeitete. Und ich sagte mir, du musst dich einfach mehr anstrengen, du bist zu faul und so weiter. Ich dachte, der Grund, warum ich mich nicht konzentrieren konnte, sei irgendwie meine Schuld. Aber als ich meine Diagnose erhielt, ergab alles plötzlich einen Sinn, und ich verstand, dass es sich um eine neurobiologische Störung handelt. Und dieses Verständnis war der Auslöser dafür, dass sich etwas änderte.

Man schätzt, dass 35 bis 50 % der in der Musikbranche tätigen Personen an einer neurodiversen Erkrankung wie ADHS leiden. Manche Menschen haben sehr milde Symptome und sind nicht sehr stark davon betroffen, während bei anderen die Symptome viel ausgeprägter sind

CCB Magazin:Wie hilfst du den Menschen, die mit dir arbeiten wollen?

Tristan Hunt:Bei meiner Arbeit mit meinen Kunden geht es darum, ihnen zu helfen, eine Routine und eine Struktur aufzubauen, die für sie funktioniert. Bei Menschen mit ADHS sehen wir oft, dass es ihnen sehr schwer fällt, diese Routinen und Strukturen aufzubauen. Sie sind oft sehr unkonzentriert und impulsiv, und das macht es schwer, die wichtigsten Aufgaben im Leben zu bewältigen. Ich gebe ihnen praktische Werkzeuge und Tipps an die Hand, die sich oft speziell auf ihren Job in der Musikbranche beziehen. Sobald sie eine gute Struktur gefunden haben, greife ich immer wieder auf diese Werkzeuge zurück, um Stabilität zu schaffen. Die Wiederholung hilft, die kognitive Überforderung zu reduzieren. Sie ermöglicht es den Menschen, sich ruhiger zu fühlen, sich besser zu konzentrieren und die Arbeit und die Aktivitäten zu erledigen, die sie erledigen wollen.

CCB Magazin:Sind auch prominente Kunden darunter?

Tristan Hunt:Ja, die gibt es. Ich arbeite mit mehreren bekannten Musiker*innen und Leuten aus der Musikindustrie zusammen. Ich kann die Namen nicht nennen, aber ich habe auf meiner Website einige Erfahrungsberichte von Leuten aus der Branche, die sich dabei sicher und wohl fühlten. Meine Coaching-Sitzungen sind absolut vertraulich. Sehr oft bin ich die erste Person, mit der sie über ihre Probleme sprechen. Oft haben sie Tränen in den Augen, wenn ihnen klar wird, dass sie an so vielen Problemen, für die sie sich bisher selbst die Schuld gaben, gar nicht schuld sind.

CCB Magazin:Was ist der Unterschied zwischen ADHS-Therapie und Coaching?

Tristan Hunt:Ein sehr wichtiger Punkt. Einfach ausgedrückt, geht es in der Gesprächstherapie wie in der Psychoanalyse darum, die Ursachen für unsere Gefühle anzugehen. Woher kommen diese Verhaltensweisen? Woher kommen diese Gedanken und Ideen? Das geht oft auf Kindheitsprobleme zurück, auch frühere Traumata sind möglich. In der Therapie geht es darum, sich selbst zu verstehen. Beim Coaching hingegen gibt es ein starkes Element der Selbsterkenntnis, aber es konzentriert sich eher auf das Hier und Jetzt. Wie können wir dir helfen, das zu tun, was du tun willst? Dazu gehören, wie gesagt, Werkzeuge, Tipps, Strukturen, Strategien und vor allem Routinen für den Alltag. Und gelegentlich, wenn ich es für nötig halte, empfehle ich meinen Kunden Therapeuten, Ärzte, Suchtspezialisten, mit denen ich zusammenarbeite, die bei Bedarf spezielle klinische Unterstützung leisten können.

Sehr oft bin ich die erste Person, mit der sie über ihre Probleme sprechen. Oft haben sie Tränen in den Augen, wenn ihnen klar wird, dass sie an so vielen Problemen, für die sie sich bisher selbst die Schuld gaben, gar nicht schuld sind

CCB Magazin:Du hast es bereits erwähnt: Viele Menschen in der Musikindustrie haben ADHS. Wie groß ist das Problem tatsächlich?

Tristan Hunt:Die AFEM hat gerade eine Studie über Neurodiversität in der elektronischen Musikindustrie abgeschlossen, die ich kurz vor meinem Ausscheiden aus dieser Funktion geleitet habe. Ich glaube, es ist die erste ihrer Art in der Musikindustrie. Wenn sie veröffentlicht wird, wird sie wirklich einige interessante Fakten und Zahlen enthalten. Aus verschiedenen Quellen weiß ich, dass schätzungsweise 35 bis 50 Prozent der in der Musikbranche tätigen Personen an einer neurodiversen Störung wie ADHS leiden. Das Spektrum des Schweregrads ist jedoch sehr unterschiedlich. Manche Menschen haben sehr milde Symptome und sind kaum davon betroffen, während bei anderen die Symptome viel ausgeprägter sind.

CCB Magazin:Ist ADHS eigentlich etwas Neues in der Musikbranche, oder wird nur darüber gesprochen, weil die Gesellschaft sensibler geworden ist? Hat es die Zappelphilippe auf der Gitarre nicht schon immer gegeben?

Tristan Hunt:ADHS ist der Ärzteschaft seit über 100 Jahren bekannt, wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen. Wenn also die Musikindustrie nur das Mikro des Makros ist - das Makro ist unsere breitere Gesellschaft -, dann können wir sicher sagen, dass die Krankheit für unsere Branche nichts Neues ist. Ich denke, dass die Gesellschaft - glücklicherweise - endlich sensibler, fürsorglicher und rücksichtsvoller gegenüber den Bedürfnissen des Einzelnen wird. Was wir jetzt in der Musikindustrie sehen, ist, dass viel mehr Menschen sich melden, eine Diagnose erhalten und feststellen, dass sie ADHS haben.

CCB Magazin:Wer ist stärker betroffen - Männer oder Frauen?

Tristan Hunt:Es gibt drei Arten von ADHS: Hyperaktiv (der Zappelphilipp, wenn du so willst), häufiger bei Männern und eher bei Jungen zu beobachten. Dann gibt es den unaufmerksamen Typ, den wir häufiger bei Mädchen und Frauen sehen. Die dritte Variante ist der kombinierte Typ, bei dem jemand sowohl hyperaktiv ist - es fällt ihm/ihr schwer, körperlich und geistig ruhig zu sein - als auch unaufmerksam - es fällt ihm/ihr schwer, sich zu konzentrieren und Prokrastination zu überwinden.

CCB Magazin:Last but not least: Gibt es Vorteile, wenn man ADHS hat?

Tristan Hunt:Oh, so viele Dinge! Menschen mit ADHS sind oft sehr emphatisch, was sie sehr gut im Umgang mit Menschen macht. Sie knüpfen Beziehungen, stellen Verbindungen her, all diese Dinge. Ich habe bereits Kreativität und ein gutes Gespür für Intuition erwähnt. Die Kehrseite der Medaille ist, dass sie sich nicht auf langweilige oder nicht dringende Aufgaben konzentrieren können (beide produzieren nicht genug des Neurotransmitters Dopamin, an dem es ADHS-Gehirnen chronisch mangelt, um solche Aufgaben zu erledigen), aber dass sie sich auf Arbeiten, die sie interessieren, hyperfokussieren können, was sie bei solchen Aufgaben äußerst effizient und effektiv macht. Dies sind sehr wertvolle und höchst wünschenswerte Fähigkeiten in einem von kreativen Talenten geprägten Wirtschaftszweig wie der Musikindustrie. Wir müssen Menschen mit ADHS und anderen neurodiversen Störungen schätzen, unterstützen und verstehen. Auf diese Weise werden sie gedeihen, und wir alle werden von ihren Stärken und vielen erstaunlichen Gaben profitieren.

 


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