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Jan Henselder: „Ich will den vergessenen Spuren eine Perspektive geben“

Jan Henselder: „Ich will den vergessenen Spuren eine Perspektive geben“
Photo: © Jan Henselder

Jan Henselder ist Bildwissenschaftler, Kurator und Herausgeber. 1987 kam er nach Berlin. Heute recherchiert und präsentiert er audiovisuelle und fotografische Spuren zu zeithistorischen Themen. Im heutigen Profil der Woche (Teil 12) spricht er über seine Arbeit, das wilde Nachwende-Berlin und wie sein Einzug in die Spandauer Vorstadt sein Leben veränderte.


CCB Magazin: Hallo Jan, wer bist du und was machst du?

Jan Henselder: Ich heiße Jan Henselder, ich lebe seit 1987 in Berlin und bin Bildwissenschaftler, Kurator und Herausgeber. Als Bildwissenschaftler beschäftigte ich mich mit der Produktion, Analyse, Anwendung und Rezeption von analogen und digitalen Bildmedien. In diesem Zusammenhang recherchiere und präsentiere ich audiovisuelle und fotografische Medien zu zeithistorischen, künstlerischen und kulturellen Themenfeldern. Ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Arbeit liegt in der Entwicklung von interdisziplinären Strategien zur langfristigen Konservierung, Erschließung und Nutzung von Film, Bild und Ton in Sammlungen, Archiven und Museen.

CCB Magazin: Wie bist du zu deiner Arbeit gekommen?

Jan Henselder: Das war ein langer Weg: 1987 habe ich beim Lette Verein eine Ausbildung zum Fotografen begonnen, die ich nach einem Jahr aber wieder abbrach. Dann habe ich mich erst einmal mit Jobs als Filmvorführer und Theaterleiter in den Programmkinos Westberlins über Wasser gehalten. Nach dem Mauerfall 1990 bin ich in die Spandauer Vorstadt im Bezirk Mitte gezogen. Das war eine sehr prägende Zeit, alles schien möglich zu sein im Nachwende Berlin. Ich zog in eine der vielen verwaisten und heruntergekommenen Wohnungen und begann das zu dokumentieren, was mir an Kunst und Leben wichtig erschien. Damit fing alles an, und es kam dann eins zum anderen: Ich absolvierte eine Ausbildung zum Film- und Videoeditor und ein Studium der Bildwissenschaften. Über einen Job im Deutschen Historischen Museum bekam ich dann die Gelegenheit, das Filmarchiv des Museums neu zu organisieren und eine Filmreihe für das Zeughauskino zu kuratieren. Doch die finanziellen Mittel waren knapp. Ich wollte dem Projekt aber eine gewisse Nachhaltigkeit verleihen. Darum gründete ich für den begleitenden Katalog den Verlag Visual Culture Press – die Filmreihe hieß: „Kunst des Dokuments – Tibet“. 

Die zentrale Frage meiner bildwissenschaftlichen Arbeit ist: Was bleibt?

CCB Magazin: Was willst du mit deiner Arbeit bewegen?

Jan Henselder: Mit meiner Arbeit möchte ich dazu beitragen, nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu geben, aus einer Vielzahl von Quellen einen historischen Kontext jenseits des Mainstream-Geschmacks zu entdecken. Und als Bildwissenschaftler ist es mir wichtig, den vergessenen audiovisuellen und fotografischen Spuren vergangener Zeiten eine langfristige Perspektive zu geben. Das beinhaltet neben der konservatorischen Sicherung der Originalausgangsmaterialien auch deren Digitalisierung, Nutzbarmachung sowie die Präsentation in Ausstellungen und Katalogen. Hierfür entwickle ich individuelle und adäquate Strategien, die dazu beitragen sollen, kulturelle Vielfalt als Teil unseres kulturellen Erbes zu erfahren. Denn die zentrale Frage meiner bildwissenschaftlichen Arbeit ist stets die nach dem „Was bleibt?“. Was für Bilder bleiben von einem Zeitabschnitt, einer Ära für nachfolgende Generationen, erhalten? In diesem Zusammenhang musste ich leider oft feststellen, dass meistens die Werke von Erfolgreichen und Berühmten in zahlreichen Varianten überleben, alles andere aber oft als uninteressant und nicht erhaltenswert eingestuft wird. Das ist schade. So entstehen kulturelle Monokulturen, die das geistige Umfeld und die Gesamtheit einer Zeit nur unzureichend widerspiegeln können. Hier möchte ich mit meiner Arbeit ansetzen.

CCB Magazin: Was ist das Besondere an deiner Arbeit?

Jan Henselder: Meine Projekte sind auf Grund meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Methodik stets ergebnisoffen geprägt und loten die Grenzen dessen was möglich ist sehr genau aus. Das Gesamtbild zu einem Thema, einem Zeitabschnitt oder einem Ort, das ich in diesem Zusammenhang widerspiegele, zeichnet sich durch Vielfalt und Multiperspektivität aus. Für das Projekt „Borderland – Audiovisuelle Quellen zur Berliner Mauer“ im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums habe ich z.B. Propagandafilme, Spielfilme, Dokumentarfilme mit Aufzeichnungen der Kunst und Subkultur der 1980er-Jahre zusammengebracht. Das Gegenüberstellen führte dazu, dass man sich genauer vergegenwärtigt, wie etwas gemacht ist, was damit erreicht werden sollte und welche Mittel hierfür eingesetzt wurden. Ausgangspunkt war es ein Verzeichnis aller audiovisuellen Aufzeichnungen zu erstellen, bei der die Berliner Mauer im Bild zu sehen ist. 

Ich erlebe Berlin als einen Möglichkeitsraum

CCB Magazin: Du bist seit 1987 in Berlin: Was bedeutet Berlin für dich als Lebensraum und Standort?

Jan Henselder: Ich erlebe Berlin als einen Möglichkeitsraum – eine Stadt, die sich immer wieder neu erfindet. Das kulturelle und subkulturelle Leben in Berlin hat meine persönliche und berufliche Entwicklung mit allen Höhen und Tiefen geprägt und wesentlich dazu beigetragen, mich mit Berlin zu identifizieren. Noch ist die Stadt ein idealer Standort für unkonventionelle Lebensentwürfe und kreative Selbstfindungen.

CCB Magazin: Du hast auch zur Kunst und Kultur nach dem Mauerfall in der Spandauer Vorstadt geforscht. Das Projekt wurde 2015 durch ein Arbeits- und Recherchestipendium des Berliner Senats für kulturelle Angelegenheiten gefördert, für dieses Jahr hast du eine Publikation geplant. Was hast du herausgefunden?

Jan Henselder: Nach dem Mauerfall war die Spandauer Vorstadt mit dem besetzten Kunsthaus Tacheles ein magisches Epizentrum für viele nach einer gesellschaftlichen Erneuerung Suchenden; Aussteiger, Künstler, Visionäre und Hedonisten. In der Mitte Berlins traf die euphorische Aufbruchsstimmung der friedlichen Revolution auf die morbide Untergangsstimmung der Subkulturen. Der schmale Grad zwischen künstlerischer Lebensführung, kommerziellem Erfolg und Touristenattraktion wurde täglich aufs Neue vermessen – für eine kurze Zeit schien es, eine konkrete Utopie könne entstehen.

CCB Magazin: Was passierte dann?

Jan Henselder: Der Traum war schnell ausgeträumt. Mit rasender Geschwindigkeit verdammte der sozioökonomische Strukturwandel das einst so anarchische Chaos zur wohl kalkulierten Performance. Jetzt, nach über 20 Jahren, unterziehe ich diese Zeit einer kritischen Revision – ich rekonstruiere Orte, Personen und Ereignisse. Ich sichere Dokumente, audiovisuelle und fotografische Spuren.

CCB Magazin: Wenn du einen Wunsch hättest: Wie sollte Berlin in Zukunft gestaltet werden?

Jan Henselder: Berlin sollte sich stärker dafür einsetzen, dass die Freiräume und Nischen, die diese Stadt in den letzten Jahrzehnten so interessant und lebendig gemacht haben, nicht durch den gewaltigen und unerbittlichen Strukturwandel geschluckt werden.

CCB Magazin: Was planst du in der Zukunft?

Jan Henselder: Zurzeit arbeite ich noch an meinem Projekt „Fragments of Yesterday – Securing the Evidence“ zur Kunst und Subkultur in Berlin Mitte der Nachwendezeit. Anschließend plane ich ein Projekt über das Verschwinden von Kulturlandschaften im Berliner Umland.

CCB Magazin: Jan, wir wünschen dir viel Erfolg dabei!


Profil von Jan Henselder auf Creative City Berlin

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