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Da ist etwas nicht im Lot

Da ist etwas nicht im Lot
Photo: © Marie Jacob

DIE GLOCKE“, ein Designobjekt aus „Die SHITSHOW – eine Ausstellung über Scheißgefühle.“

Neue Ökologiestandards und Ansprüche an die Sozialverträglichkeit – das ist die eine Seite der modernen Arbeitswelt. Die andere ist: Immer mehr Menschen fallen aufgrund psychischer Belastung aus. Die Berliner Kommunikationsagentur SHITSHOW – Agentur für psychische Gesundheit berät zur Resilienz, gibt Workshops und hat eine Pop-Up-Ausstellung zum Thema Depressionen und Angsterkrankungen entwickelt. Wie kann Kunst und Kommunikationsdesign aufzeigen, was in der Gesellschaft tabuisiert wird? 


INTERVIEW Jens ThOMAS 

 

CCB Magazin: Hallo Nele, Johanna und Luisa. Die Fehltage und Fälle von Berufsunfähigkeit aufgrund von psychischen Erkrankungen sind in den letzten Jahren rasant gestiegen – die DAK spricht von einem Anstieg um fast 140 Prozent zwischen 2000 und 2019. 8,7 Mio. Menschen sind in Deutschland an Depressionen und Angststörungen erkrankt. Ihr habt dazu eine „psychoedukative“ Ausstellung entwickelt. Was genau ist das und wem hilft es? 

SHITSHOW:Bei unserer Ausstellung handelt es sich um eine interaktive Pop-Up-Ausstellung, in denen die Besucher*innen vier Designobjekte, die MOODSUITS ®, ausprobieren können. Die Objekte sind auf der Basis von Befragungen Betroffener entstanden. Sie geben psychosomatischen Symptomen, die mit einer Depression oder einer Angststörung verbunden sind, eine Form. Die Ausstellung heißt „Die SHITSHOW – eine Ausstellung über Scheißgefühle“. Scheißgefühle kennen wir erstmal alle. Längerfristig können sie chronisch werden. Mit den MOODSUITS ® machen wir es Außenstehenden einfacher, Empathie für die Betroffenen zu entwickeln.

CCB Magazin:Wer ist denn hauptsächlich betroffen? 

SHITSHOW:Depressionen und Angststörungen gehören mittlerweile zu den zentralen Ursachen für Lebensbeeinträchtigungen weltweit. Es gibt zwar keine belastbaren Zahlen darüber, ob psychische Erkrankungen im Laufe der Zeit zugenommen haben, da die Leiden heute auch besser erkannt und häufiger diagnostiziert werden. Sagen lässt sich aber, dass alle Altersgruppen betroffen sind, wobei Frauen häufiger an Depressionen leiden als Männer. Die Jüngeren holen sich meistens erst Hilfe, wenn die Erkrankung auf dem Weg ist, chronisch zu werden. Hier setzt auch unsere Ausstellung an – und das alles in einer zugänglichen Ästhetik, ohne die übliche Schwere.

Objekt „DER WÜRGER“  
 

CCB Magazin: Kann man eure MOODSUITS® denn tragen? Sie sehen nicht so aus, als käme man damit problemlos durch die Innenstadt. 

SHITSHOW:Es geht ja nicht darum, dass man sie im Alltag trägt. Das Design ist bewusst überdimensioniert. Nimm zum Beispiel „DIE GLOCKE“, ein Designobjekt, das man wie einen Helm aufsetzen kann. Sie macht das Gefühl der depressiven Abgeschiedenheit, der Dumpfheit und Einsamkeit körperlich erfahrbar. Oder „DER WÜRGER“, eine Art schwerer Kette, die man verkehrt herum um den Hals hängt und die mit einer kleinen, eingearbeiteten Holzkugel auf den Hals des Tragenden drückt. Sie macht das mit einer Angststörung häufig einhergehende Engegefühl im Hals – Ärzt*innen nennen es Globusgefühl – nachfühlbar. Die MOODSUITS ® basieren auf dem in kognitionswissenschaftlicher und psychologischer Forschung entwickelten Embodiment-Konzept, das vereinfacht gesagt die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper untersucht. Gefühle und Wahrnehmungen haben demnach immer auch körperliche Auswirkungen – mit einer Depression oder Angststörung fühlen wir uns schwer, niedergedrückt, in der Klemme oder wie hinter einer Milchglaswand, von der Welt abgeschnitten. Uns war es wichtig, psychische Erkrankungen aus der Betroffenheitsecke zu holen und deutlich zu machen, dass sie jeden treffen können.

Depressionen und Angststörungen gehören mittlerweile zu den zentralen Ursachen für Lebensbeeinträchtigungen weltweit. Vor allem junge Menschen sind betroffen, holen sich aber meistens erst Hilfe, wenn die Erkrankung bereits auf dem Weg ist, chronisch zu werden

CCB Magazin: Wie kam die Idee dazu? Darf ich fragen, ob ihr selbst betroffen seid? 

SHITSHOW:Natürlich darfst du fragen. Die Idee entstand zunächst im Dialog zwischen uns dreien: Johanna hat Erfahrungen mit Angststörungen, Nele hat Erfahrungen mit Depressionen und Luisa hat Erfahrungen mit Johanna und Nele. Wir haben uns viel mit der Frage beschäftigt, wie man es Nichtbetroffenen erleichtern kann, psychische Erkrankungen als reale Erkrankungen wahrzunehmen. Denn wenngleich die Sensibilität in der Gesellschaft gegenüber psychischen Erkrankungen über die Jahre zugenommen hat, trauen sich viele noch immer nicht damit an die Öffentlichkeit. Die MOODSUITS ® dienen hier als Brücke. Sie sollen die Verständigung zwischen den unterschiedlichen Gruppen erleichtern.

CCB Magazin: Eure Objekte wurden gemeinsam mit Produktdesigner*innen der Universität der Künste entwickelt. Ihr setzt, wie ihr sagt, auf das körperliche Erleben der Besucher*innen. Was erlebt man in der Ausstellung? Und wie wird das Projekt angenommen? 

SHITSHOW:Wir zeigen, dass man mit dem Problem nicht alleine ist oder alleine sein muss – und genau das erleben die Besucher*innen. Die Reaktionen sind bisher durchweg positiv. Betroffene geben häufig das Feedback, dass sie sich durch unseren Ansatz empowered fühlen. Mittlerweile sind wir ja eine Beratungsagentur für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Wir haben sogar eine Psychologin mit an Bord – unsere Zielgruppe sind Organisationen und Unternehmen. In der Vergangenheit war aber auch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen besonders schön. Bei einer Ausstellung in einer Tagesklinik kam zum Beispiel mal eine betroffene Tochter mit ihrer Mutter und sagte nach dem Ausprobieren: „Siehst du, Mama, so fühlt sich das an, wenn Papa immer sagt ‚Jetzt lass den Kopf doch nicht so hängen!’ – ich versuche es ja, aber ich kann es einfach nicht, weil es mich so runterdrückt.“ Die Mutter wollte daraufhin unbedingt gemeinsam mit dem Vater die Ausstellung besuchen. Das sind tolle Erlebnisse, die uns in unserer Arbeit bestärken.

Sind gut drauf, beschäftigen sich aber mit "Scheißgefühlen" - das Team der Agentur SHITSHOW: v.l.n.r.: Nele Groegor, Johanna Dreyer, Luisa Weyrich, Benthe Untiedt.

CCB Magazin: Studien haben ergeben, dass die moderne Arbeitswelt, ihre Schnelligkeit und die zunehmenden Unsicherheiten psychische Krankheiten bedingen können. Die Gefahr, einen Unfall auf der Arbeit zu erleiden, ist in Deutschland auf ein historisches Tief gesunken. Die Zahl der Arbeitnehmer dagegen, die wegen psychischer Leiden und Verhaltensstörungen ausfallen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Ist eure Ausstellung eine Kritik an der heutigen Arbeitswelt, die viele überfordert? 

SHITSHOW: Das ist eine spannende Frage – und sie ist gar nicht so einfach zu beantworten. Gerade was die Ursachen psychischer Erkrankungen angeht, teilt sich die öffentliche Meinung ja nach wie vor in die Lager derjenigen, die sie vor allem in der Biologie des Menschen begründet sehen, und jener, die unsere Lebenswelt als Ursache in den Fokus rücken. Wir möchten darauf keine einfachen Antworten geben, weil es keine einfachen Antworten gibt. Die Ursachen für psychische Erkrankungen sind immer multifaktoriell – es spielen sowohl biologische Faktoren eine Rolle als auch unsere moderne Lebenswelt, die stetige Verfügbarkeit, ständige Selbstmotivation und der Leistungsdruck. Wir machen es uns unserer Meinung nach zu einfach, wenn wir den psychisch erkrankten Menschen entweder als die Summe dysfunktionaler biologischer Vorgänge oder als „fehlangepasstes Individuum“ an die Anforderungen des modernen Arbeitsmarktes betrachten. Genau diese Unterscheidung möchten wir mit unserem körperzentrierten Ansatz aufbrechen. Wichtig ist uns, dass man eine psychische Erkrankung in ihrer Komplexität ernst nimmt. Da ist etwas nicht im Lot, von innen und von außen. Die äußeren Umstände beeinflussen das Innere, das psychische Gleichgewicht, und andersherum.

Die Ursachen für psychische Erkrankungen sind immer multifaktoriell – es spielen sowohl biologische Faktoren eine Rolle als auch unsere moderne Lebenswelt, die stetige Verfügbarkeit, ständige Selbstmotivation und der Leistungsdruck 

CCB Magazin: Ihr seid Designerinnen und Beraterinnen. Eine Tendenz der letzten Jahre ist es, dass Designer zunehmend nachhaltig produzieren, sprich ökologisch oder fair-sozial. Die arbeitssoziologische Forschung zur „Subjektivierung der Nachhaltigkeit“ rückt dagegen eine ganz andere Form der Nachhaltigkeit in den Fokus: Sie fragt nach der Schonung der Ressource Mensch. Zentrale Frage ist, wie das Arbeitssubjekt in der modernen Arbeitswelt geschützt werden kann – vor sozialer Ungleichheit, vor permanenter Verfügbarkeit etc. Brauchen wir einen neuen Blick auf die Nachhaltigkeit, der die Belange der Arbeitssubjekte ins Zentrum stellt?

SHITSHOW:Unbedingt! Ein System, das Menschen einzig und allein als austauschbare Arbeitskräfte definiert, fördert den psychosozialen Druck, fördert Unsicherheit und damit die Anfälligkeit für psychische Krisen. Wir leben ja in einer Arbeitsgesellschaft, in der auf der einen Seite der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Kreativität zunimmt, in der auf der anderen Seite aber die Angst vor Deklassierung und sozialem Abstieg an Dominanz gewinnt. Antworten auf das wachsende psychische Leid können darum nie nur individuell sein. Man muss das soziale Gefüge als Ganzes in den Blick nehmen.

CCB Magazin: Wie müsste eine Gesellschaft aussehen, damit es ein Projekt wie eures gar nicht braucht?

SHITSHOW:Eine solche Gesellschaft würde sowohl auf individueller als auch auf gemeinschaftlicher Ebene vor der Entwicklung schwerwiegender psychischer Krisen schützen. Dafür bräuchte es eine Arbeitswelt, die dem psychosozialen Druck und der Angst vor sozialem Abstieg entgegenwirkt. Und es müsste, ganz basal, die psychotherapeutische Grundversorgung für Hilfesuchende verbessert und ausgeweitet werden. Hilfsangebote wären schneller auffindbar und leichter zugänglich. Außerdem müsste das Wissen über den Erhalt und die Wiederherstellung der eigenen psychischen Gesundheit bereits in den Schulen vermittelt werden – Großbritannien hat bereits vor zwei Jahren das Schulfach „psychische Gesundheit“ eingeführt, ein Beispiel, dem man folgen sollte. Eine resiliente Gesellschaft – gerade auch in Zeiten des technischen Fortschritts – ist eine Gesellschaft, die jedem ein Leben in Würde und mit der notwendigen materiellen Sicherheit garantiert. Armut und prekäre Lebensumstände gehören zu den größten Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Erkrankungen – und davon sind gerade Kreativschaffende nicht ausgenommen.


Profil der SHITSHOW auf Creative City Berlin


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