Digitalisation back

Es wirkt

Es wirkt
Photo: © Jens-Swen Thomas

Computer- und Spielsucht nehmen in der Gesellschaft zu – das ist die schlechte Nachricht. Es kommen aber auch immer mehr Smartphones und Tablets zur Gesundung des Menschen zum Einsatz – das hört sich wiederum ganz gut an. Eine, die seit Jahren dazu arbeitet, ist die Berliner Musiktherapeutin Nadja Grothe: Sie setzt Musik-Apps gezielt zu Therapiezwecken ein. Wir haben die Musik-App-Therapeutin getroffen und wollen wissen: Wie heilend sind Klänge im digitalen Zeitalter? Wie viel Technik verträgt der Mensch? Und welches Berufsfeld verbirgt sich dahinter?

 

INTERVIEW   KORA ANNIKA BÖNDGEN

 


CCB Magazin:Hallo Nadja, du bist diplomierte Musikerin und Musiktherapeutin. Du arbeitest in der Klinik für seelische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter in Berlin-Tempelhof und integrierst als eine der wenigen Musik-Apps in die musiktherapeutische Arbeit. Erklär uns doch mal: Was genau passiert da? 

Nadja:Ich setze das Medium Musik gezielt in die therapeutische Beziehungsarbeit ein. Ziel ist es, die seelische, körperliche und geistige Gesundheit zu verbessern oder wiederherzustellen. Die Musiktherapie kann dazu in vielen Feldern zum Einsatz kommen – im psychotherapeutischen, psychiatrischen und psychosomatischen Rahmen, in der Palliativmedizin, Neurologische Rehabilitation oder auch in der Arbeit mit körperlich und geistig behinderten Menschen, um nur einige zu nennen. Und ich integriere dazu zusätzlich Musik-Apps. Das macht bislang kaum jemand. Ich selbst kenne nur zwei weitere Musiktherapeuten, die auch so arbeiten. Das Schöne ist ja, dass der Einsatz von Musik-Apps in jedem Feld seine Besonderheit hat. Es geht immer um den individuellen Zugang, sowohl aktiv als auch rezeptiv. Wichtig ist eine leichte Handhabung aber auch der individuelle klangästhetische Bezug. Deshalb eignen sich Musik-Apps auch so gut. Ich setze sie im musiktherapeutischen Kontext gleichberechtigt wie jedes andere Instrument ein. 

CCB Magazin:Viele Forscher warnen geradezu vor einer digitalen Überdosis. So kam eine Studie der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler (CSU) zu dem Ergebnis, dass heute bis zu 600.000 Jugendliche in Deutschland als onlinesüchtig gelten können. 70 Prozent der befragten Kinder können sich nur maximal zwei Stunden ohne digitale Medien selbst beschäftigen. Sollte man Jugendliche nicht eher von den digitalen Endgeräten wegholen? 

Nadja:Ja und nein. Es scheint leider wirklich so zu sein, dass die technische Entwicklung auch auf Kosten einer gesunden Entwicklung geht. Ich arbeite zum Beispiel mit vielen jungen Menschen, die einen sehr hohen Medienkonsum und große Schwierigkeiten haben, zwischenmenschliche Beziehungen im „Real Life“ einzugehen. Nebenbei angemerkt ist das aber nicht nur ein Problem der Jugendlichen, das betrifft auch Erwachsene. Ein Grundsatz therapeutischer Behandlungen ist es aber, den Menschen da abzuholen, wo er steht. Und hier sind Tablets und Smartphones gerade für viele junge Betroffene ein sicherer Hafen. 

CCB Magazin:Inwiefern? 

Nadja:Weil ihnen Technik und Oberfläche bereits vertraut sind. Zudem erschließt sich der Umgang mit Musik-Apps spielend – die meisten verfügen bereits über eine gewisse Expertise. Und ich beobachte, wie gerade diese betroffenen Kinder und Jugendlichen über die Heranführung an Musik-Apps oftmals ihre zunächst bestehende Abwehr gegenüber dem traditionellen Instrumentarium abbauen und gar Interesse dafür entwickeln, wie sie sich also allmählich in ein neues Feld wagen, so gewissermaßen aus der sozialen Isolation treten und in den zwischenmenschlichen Austausch finden und spielerisch ihre sozialen Fähigkeiten verbessern. Der Einsatz von Musik-Apps hat hier gewissermaßen eine Brückenfunktion im therapeutischen Prozess.

Der Einsatz von Musik-Apps ist in jedem Feld eine Besonderheit. Es geht immer um den individuellen Zugang. Wichtig ist eine leichte Handhabung, aber auch der individuelle klangästhetische Bezug

CCB Magazin:Kannst du deinen Arbeitsalltag einmal beschreiben? Wie führst du Pascal, Sven oder Cornelia an digitale Endgeräte ran?

Nadja:Wir sind eine Akutklinik, und da treffe ich auf Menschen mit höchst unterschiedlichen Erkrankungen oder Belastungen. Darunter sind immer wieder welche, die aus irgendeinem Grund eine Blockade haben, sich verbal mitzuteilen, geschweige denn, ihre Stimme überhaupt zu nutzen. Kürzlich war zum Beispiel ein ganz junges Mädchen bei mir. Mit ihr habe ich erstmal einen eingängigen Beat aus vorgefertigten Klängen gebastelt. Im Anschluss habe ich ihr gezeigt, dass man auch eigene Klänge, so zum Beispiel die eigene Stimme, sampeln und verfremden kann. Der Prozess, die Stimme sozusagen zu „entkörpern“ und zu „entpersonifizieren“, ermöglicht es, den Klang der Stimme überhaupt zuzulassen. Dieses Mädchen hatte zum Beispiel einen sogenannten „selektiven Mutismus“: sie konnte aus irgendeinem Grund nicht sprechen, obwohl sie die Fähigkeit dazu hat. Mit dem Einsatz von Musik-Apps konnte diese Blockade bei ihr gelöst werden. Das ist aber nur ein Beispiel meiner täglichen Arbeit. Oft kommen Musik-Apps auch einfach nur aus musikästhetischen Gründen zum Einsatz. 

Auf dem Weg zur Arbeit: Nadja Grothe. Foto: Jens-Swen Thomas 
 

CCB Magazin:Gibt es denn verschiedene Apps für bestimmte Krankheitsbilder? Kannst du Beispiele bringen? 

Nadja:Ich würde eher sagen, dass der Einsatz von geeigneten Musik-Apps auch den Menschen, die körperlich oder auch kognitiv irgendwelche Einschränkungen haben, eine Möglichkeit an gesellschaftlicher Teilhabe bietet. Bezogen auf meine Arbeit kann ich zum Beispiel die Zielfläche einer Taste vergrößern, wenn jemand Schwierigkeiten in der gezielten Steuerung von Bewegungen hat. Es gibt sogar Musik-Apps, die über eine integrierte Tablet-Kamera Körperbewegungen erfassen und diese in Klänge umsetzen. Das Gute ist ja, dass es sowohl komplexe als auch niederschwellig leicht zu bedienende und zu erfassende Musik-Apps gibt. Es ist für jeden und jede etwas dabei.

Bestimmte Klänge können auch schwierig oder kontraproduktiv sein. Nämlich dann, wenn Personen eine akute psychotische Episode erleben oder unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Insgsamt eignet sich die Arbeit mit Musikapps aber gut. Der Einsatz von Musik-Apps hat eine Brückenfunktion im therapeutischen Prozess

CCB Magazin:Gibt es Musik, die besonders heilsam ist oder welche, auf die man zu therapeutischen Zwecken besser verzichten sollte? Gibt es Krankheitsbilder, wo man Musik-Apps nicht anwenden sollte? 

Nadja:Das Schöne ist erstmal, dass Musik oder Klänge fast jeden emotional berühren. Was für den einen angenehm und beruhigend ist, kann bei einem anderen das komplette Gegenteil bewirken. Unsere musikästhetischen Vorlieben sind zudem abhängig von Alter, Kultur oder persönlichen Erinnerungen. Aber ja, tatsächlich kann der Einsatz von Musikapps bei einer musiktherapeutischen Behandlung auch schwierig oder kontraproduktiv sein. Nämlich dann, wenn Personen eine akute psychotische Episode erleben oder unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Bestimmte Klänge können im schlimmsten Fall sogar Ängste und Panikattacken auslösen. Von einer besonderen Musikart hängt das aber nicht ab.

Foto: Jens-Swen Thomas 
 

CCB Magazin:Wie ist die Resonanz bislang auf deine Arbeit? Gerade die Schulen haben sich jahrelang vor der Digitalisierung versperrt und hinken im internationalen Vergleich weiter hinterher. Gibt es Ansätze, Musik-Apps an Schulen oder auch in der Präventiv-Medizin einsetzen zu wollen oder sperrt man sich bislang dagegen? 

Nadja:Durch meine Arbeit in der Klinik in Berlin-Tempelhof habe ich bislang nicht den Eindruck, dass sich Institutionen im Allgemeinen gegen den Einsatz von Apps und technologischen Neuerungen sperren. Auch meine Kollegen finden das toll oder zumindest interessant. An den Institutionen gilt bisher aber eher das Credo, beim Altbewährten zu bleiben, da alles Neue Geld kostet und auch das Thema Datensicherheit in der Anschaffung hinderlich zu sein scheint. Daher gibt es bislang auch nur Einzelne im Gesundheitswesen, die neue Technologien therapeutisch nutzen. Da ist man in anderen Ländern schon wesentlich weiter. Um auch hier voranzukommen, müssten mehr Forschungsgelder in dieses Feld fließen. Das wird aber schwierig bleiben.

CCB Magazin:Warum? 

Nadja:Ein Grund ist, dass die Musiktherapie noch immer nicht im Heilmittelkatalog steht. Darum bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen die Musiktherapie bis heute nicht. Deshalb gibt es auch noch keinen entwickelten Markt. 

Um das Feld von Appmusik im musiktherapeutischen Feld voranzubringen, müssten mehr Forschungsgelder fließen. Das Problem ist aber, dass die Musiktherapie noch immer nicht im Heilmittelkatalog steht und von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt wird. Für die Zukunft sehe ich hier aber ganz viel Potenzial

CCB Magazin:Aber könnte nicht gerade die Integration von Musik-Apps in die musiktherapeutische Arbeit dazu führen, dass daraus ein zukunftsfähiger Markt oder ein expandierendes Berufsfeld wird?  

Nadja:Das hoffe ich. Und ich sehe hier auch ganz viel Potenzial. Das Komische ist ja, dass die Musiktherapie zunächst mal nichts Neues ist. Ansätze finden sich bereits in der Frühantike. Musik galt als Heilritual, durch Musik und einen tranceartigen Zustand sollten die Dämonen vertrieben werden. In der Renaissance beschäftigten sich Wissenschaftler mit den Zusammenhängen von Musik mit menschlichen Affekten. Im 19. Jahrhundert fanden erstmals psychologische Konzepte Einzug in die Behandlung von psychischen Erkrankungen. Den Durchbruch hatte die Musiktherapie aber erst in den 1970er Jahren. Und ein Großteil der MusiktherapeutInnen arbeitet heute in stationären Einrichtungen (Kliniken), Heimen, an Schulen sowie in Beratungsstellen und anderen ambulant versorgenden Institutionen. Das Problem ist nur, dass der Beruf der MusiktherapeutIn bislang nur in Österreich geschützt ist. Auch wirkt er für viele noch immer exotisch. Der Einsatz von digitalen Endgeräten könnte aber in Zukunft gerade in Feldern wie der ambulanten Patientenversorgung, die immer bedeutender wird, eine wichtige Rolle spielen. Das Einzigartige an einem Tablet als Spieloberfläche ist ja, dass zigtausende Instrumente mit Hilfe eines Mediums gespielt werden können und alles samt dazugehöriger Technik bequem in einen Rucksack passt. In diesem Fall macht der anderweitig verwendete Slogan “Quadratisch, praktisch, gut“ wirklich Sinn – und tut gut.   


 

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